Psychiatrische Begleiterkrankungen (Elektrosensibilität)

Fee @, Mittwoch, 09.06.2010, 14:30 (vor 5304 Tagen) @ H. Lamarr

Interessant zu lesen das Kapitel Diskussion von S. 93 bis 103:
Zu den diskutierten Effektormechanismen gehören genotoxische Effekte, Effekte auf Hormonsysteme z.B. Melatonin und auf andere Effektorsysteme, wie z.B. heat shock Proteine, Parameter der Membranstabilität sowie bestimmte Typen biochemischer Reaktionen.

In der Neurobiolgie gibt es das Phänomen der neurobiologischen Sensitivierung, d.h. ein System wird immer empfindlicher gegenüber einem Reiz, je öfter dieser Reiz appliziert wird. Dazu gehört z.B. das "kindling" Phänomen. In (Tier)Modellen sinkt die Krampfschwelle nachdem Krampfgifte oder entsprechende Stromdosen wiederholt verabreicht wurden.

Einige der Betroffenen zeigen Symptome der Depressivität der Aengstlichkeit und weiterer psychischer Störungen. Aus diesen Symptomüberschneidungen kann aber nicht auf eine Kausalbeziehung geschlossen werden oder die Elektrosensiblität "erklärt" werden.

Unter den Behandlungen dominierten medikamentöse Verfahren, Schwermetallausleitungen und Zahnsanierungen. Hinweise auf eine Wirksamkeit der Massnahmen wurden in der Studie nicht gefunden.

In der klinisch-chemischen Laboranalytik wurden neben einigen exploratorischen Parametern gezielt solche Parameter untersucht, die die Erklärungsmodelle "Eisenmangel", "Schilddrüsenunterfunktion", "Leberfunktionsstörung", oder chronischer entzündlicher Prozess abbilden.
Weder im Vergleich der Kontrollstichproben noch anhand der Normalwerte zeigten sich grobe Auffälligkeiten in der Gruppe der Elektrosensiblen. Die Hypothese, dass eines der genannten Störungsbilder bei einem relevanten Teil der Patienten die zugrunde liegende somatische Störung darstellt, muss also verworfen werden. Darüber hinaus zeigten sich durchaus in einzelnen Parametern des Routinelabors statistische Abweichungen zwischen Elektrosensiblen und Kontrollgruppe, deren klinische Bedeutung jedoch zweifelhaft ist, da es sich ungeachtet der statistischen Signifikanzen überwiegend um relativ geringe Gruppenunterschiede innerhalb von Normbereichen handelte. Für den Fall zukünftiger Erhebungen wäre nach unseren Daten am ehesten das Augenmerk auf Schilddrüsenfunktion (leichte Häufung des Verdachts auf Ueberfunktion bei Betroffenen) und Leberwerte (leichte Erhöhung bei Betroffenen) zu richten, da sich hier Hinweise für Gruppenunterschiede finden liessen.

Serum-Kupferwerte waren in der Gruppe der Elektrosensible signikant erhöht (Bio-Lebensmittel?).
Erhöhte Serumwerte an Zahnmetallen liessen sich nicht feststellen. Interessanterweise waren die auf Schwermetallentgiftungen (z.B. Ausleitungstherapien und Zahnsanierungen) ausgerichteten Behandlungen eines Teils der Elektrosensiblen, soweit in den Befragungen erkennbar, wirkungslos. Elektrosensible mit oder ohne derartige Behandlungsversuche wiesen sehr ähnliche Beschwerdenprofile und Beschwerdeintensitäten auf.

Genetisch messbarer Anteil der Leberentgiftungskapazität. Bestimmt wurden 22 Genvarianten. Die beschriebenen Gene sind für einen grossen Teil des sog. xenobiotischen Stoffwechsels verantwortlich, also für die Verarbeitung von Fremdstoffen (Gifte und Medikamenten). In der Hauptauswertung zeigte sich ein signifikanter Unterschied lediglich für den rs947894 des GSTP1. Der rs947894 beschreibt einen Basenaustausch von A nach G im Exon 5 des GSTP1 Gens. Dies führt zu einer Aenderung der Aminosäuresequenz von Ile nach Val an Position 105. Das G-Allel wird nach der internationalen Nomenklatur auch als GSTP1*B bezeichnet. Das Allel ist mit einer verminderten katalytischen Aktivität assoziert und somit mit einer verminderten Entgiftungskapazität. Das G-Allel findet sich in der Gruppe der Elektrosensiblen signifkant häufiger.

Allele des GSTT1 und des Nat II (insbesondere rs1801280) zeigen in der zweiseitigen Testung Trendsignifikanzen, wobei jeweils das Nullallel (GSTT1) bzw. das für den slow metabolizer Status typische Allel (rs1801280) numerisch häufiger bei den Elektrosensiblen gefunden wurde. Diese Befunde könnten einen Hinweis darauf sein, dass eine verminderte Kapazität der Phase II Entgiftung häufiger bei Elektrosensiblen als bei den Kontrollen auftritt. Einschränkend ist aber zu sagen, dass alle Testungen nicht signifkant waren, wenn für multiples Testen korrigiert wurde. Den erhobenen Befunden kommt also allenfalls eine explorativ-hypothesenbildende Bedeutung und keine konfirmatorische Bedeutung zu.

Immunologische Parameter: Allergie-Chip: In den quantitativen Auswertungen hatten Elektrosensible signifikant höhere IgE-Werte als die Kontrollen (Vergleich der Gruppen), die klinische Relevanz dieses Befundes ist aber möglicherweise gering.

HLA-Status: Ein signifkanter Unterschied zwischen den Allelverteilungen der Kontrollgruppe im Vergleich zur Gruppe der Elektrosensiblen ergab sich beim HLA-DRB1. Dieser Befund hat keine unmittelbare klinische Relevanz. Bekannt ist jedoch, dass Allele des HLA-DRB1 mit verschiedenen Autoimmunerkrankungen assoziert ist. Sollte sich der Befund bestätigen, könnte dies als ein Hinweis für einen Auto-Immunanteil an der Symptomatik zumindest einiger Elektrosensibler gewertet werden.

Die Hypothese einer erheblichen Einschränkung der Herzratenvariabilität als Zeichen einer organischen autonomen Dysfunktion oder einer Maladaption des Herzkreislaufsystems konnte also nicht positiv bestätigt werden.

Wahrscheinlich ist ressourcenstärkenden Therapien, also solchen Therapien, die auf den individuellen Stärken aufbauen, und symptomorientierten Therapien, insbesondere psychotherapeutischen Verhaltenstherapien, der Vorzug zu geben vor Therapieempfehlungen, die auf einzelnen Krankheitsmodellen beruhen. Kognitive Verhaltenstherapie könne die Symptome der elektrosensiblen Patienten bessern, der Schluss, dass die Symptome psychisch seien sei unzulässig, da sich durch Psychotherapie der Umgang ändern lässt, unabhängig davon ob eine somatische Grunderkrankung vorliegt oder nicht.

Zusammenfassung:
Die vorliegenden Daten zu den Begleitfaktoren legen kein einheitliches Erklärungsmodell zur Erklärung des Phänomens der Elektrosensiblität nahe. Dies gilt auch für das in Betroffenenkreisen vielfach favorisierte umweltmedizinische Erklärungsmodell. Auch liess sich die Hypothese, dass fehlgedeutete somatische Erkrankungen einen grossen Teil der Beschwerden erklären, nicht erhärten, obwohl Elektrosensible im Durchschnitt mehr Erkrankungen in der Anamnese angaben als Kontrollen. Ein grosser Teil der Betroffenen macht in Erhebungsinstrumenten Angaben, die für Individuen typisch sind, die an somatoformen Störungen leiden. Definitionsgemäss werden darunter solche körperlichen Störungen verstanden, für die eine ausreichende und plausible Begründung nicht gefunden werden kann. Ob aber die Belastung mit EMF eine ausreichende Begründung für die geschilderten Beschwerden darstellt, liegt im Ermessen des Diagnostikers, so dass, je nach Einschätzung, eine somatoforme Diagnose vergeben werden kann oder aber nicht.

Tags:
EHS, Elektrochonder, Kausalbeziehung, Verhaltenstherapie, Somatoforme Störung, Autoimmunerkrankung


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