EMF-Wirkung auf Gliederfüßer (Forschung)

H. Lamarr @, München, Freitag, 13.01.2023, 14:41 (vor 666 Tagen)

Im Auftrag des Schweizer Bundesamtes für Umwelt (Bafu) untersuchten Forscher der Universität Neuenburg mit einer Literaturauswertung die Wirkung von nichtionisierender Strahlung (NIS) auf Arthropoden (Gliederfüßer). Darauf machte zuerst ein Teilnehmer des Gigaherz-Forums aufmerksam. Der 90-seitige Abschlussbericht der Wissenschaftler wurde jetzt vom Bafu veröffentlicht. Neu ist, dass die Qualität ausgewerteter Studien in die Bewertung mit eingeflossen ist.

Aus Sicht der Autoren wurden NIS-Wirkungen mit einer akzeptablen Verlässlichkeit (mindestens mittel) für Fortbewegung, Fortpflanzung, Nahrungssuche, Orientierung, DNA-Schädigung, Zellstress, Verhalten und verschiedene Körperfunktionen für Frequenzen bis 6 GHz ermittelt. Von 0 bis 100 kHz gibt es eine hohe Verlässlichkeit für negative Wirkungen von NIS auf Fortpflanzung, Körperfunktionen, Verhalten und Flugfähigkeit. Von 100 kHz bis 6 GHz gibt es eine hohe Verlässlichkeit für negative Wirkungen von NIS auf die Fortpflanzung und in Form von DNA-Schädigungen. Für eine Wirkung von NIS auf Arthropoden oberhalb von 6 GHz liegen keinerlei Arbeiten mit hoher oder mittlerer Verlässlichkeit vor. Die von dem Anti-Mobilfunk-Verein Diagnose-Funk und dem Naturschutzbund Deutschland finanzierte Insektenstudie des Nachwuchsforschers Alain Thill fand in der Ausarbeitung keine Berücksichtigung.

Die Zusammenfassung des Berichts lautet:

[...] Nichtionisierende Strahlung (NIS) wird als eine Reihe von Wellen beschrieben, die aus oszillierenden elektrischen und magnetischen Feldern bestehen, sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen und den Atomen und Molekülen des Materials, das sie durchdringen, keine Elektronen entziehen. Anthropogene NIS kommt unter einer Vielzahl von Bedingungen vor und wird z. B. durch Hochspannungsleitungen, Mobiltelefone, Rundfunk und WLAN erzeugt. Der Emissionsgrad von NIS ist reguliert, um die Menschen vor negativen Auswirkungen auf ihre Gesundheit zu schützen. Ihre potenziellen direkten und indirekten Auswirkungen auf Arthropoden sind jedoch nur unzureichend erforscht. Dies betrifft auch die aufgrund der Regulierung erlaubten Expositionen. In dieser Literaturübersicht haben wir den Wissensstand über die letalen und subletalen Effekte von NIS auf Arthropoden zusammengefasst und bewertet. Wir haben dabei 127 Studien gefunden, in denen die Wirkung von NIS auf Arthropoden untersucht wurde. Wir haben die Qualität der Studien bewertet, um ihren Evidenzgrad zu ermitteln, und die Ergebnisse bzgl. der biologischen Wirkungen in verschiedenen Frequenzbereichen (0 - 100 kHz, 100 kHz - 6 GHz, 6 GHz - 300 GHz) kategorisch zusammengefasst. Dabei konnten wir potenzielle Wirkungen auf Verhalten, Stoffwechsel, Zellstress, Fortpflanzung und DNA-Schädigung für Frequenzen bis 6 GHz feststellen.

Für Frequenzen über 6 GHz ist der Evidenzgrad schwach oder unzureichend, was vor allem der geringen Anzahl von Studien geschuldet ist. Diese Wirkungen wurden vor allem bei experimentellen Expositionsintensitäten unterhalb der Immissionsgrenzwerte (IGW) festgestellt, die von der Internationalen Kommission zum Schutz vor NIS (ICNIRP) zum Schutz des Menschen vor negativen gesundheitlichen Auswirkungen von NIS empfohlen wurden. Die allgemeine Qualität der Studien reicht jedoch häufig nicht aus, um solide Dosis-Wirkungs-Beziehungen herzustellen, was insbesondere auf technisch unzureichende oder die Statistik verzerrende Versuchsanordnungen, respektive -protokolle zurückzuführen ist. Zudem werden die Studien in der überwiegenden Mehrheit der Fälle in einem Käfig durchgeführt, aus dem die Arthropoden nicht entkommen können, sodass die experimentellen Expositionen nicht zwangsläufig die realen Umweltbedingungen widerspiegeln.

Auch wenn die Wirkung von NIS auf Arthropoden zumindest teilweise nachgewiesen wurde, so bleibt es schwierig, das Ausmass dieser Wirkung auf grösserer Skala (Population, Ökosysteme usw.) abzuschätzen. Es bedarf daher der Durchführung solider, reproduzierbarer und grossangelegter weiterer Studien. [...]

Hintergrund
Literaturstudie im Stoa-Auftrag: Umweltauswirkungen von 5G
BfS-Workshop: Wirkungen von EMF auf Tiere und Pflanzen
Schadet Mobilfunk der Umwelt?
Klaus Buchner über das Bienensterben auf der Isle of Wight
Umstrittene Insektenstudie von Alain Thill
Schweiz: Insektensterben wegen Mobilfunk unwahrscheinlich
Handystrahlen killen unsere Bienen!

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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Bafu, Arthropoden, Gliederfüßler

EMF-Wirkung auf Gliederfüß[l]er begeistert Rebekka Meier

H. Lamarr @, München, Sonntag, 22.01.2023, 21:45 (vor 657 Tagen) @ H. Lamarr

Gigaherz-Präsident Jakob geht stramm auf die 100 zu, da sei dem alten Herrn eine Pause gegönnt. Aber wenn er schon die "Medienmitteilung" des Vereins Schutz vor Strahlung zum Gliederfüßerbericht auf seine Website kopiert, dann hätte er aus meiner Sicht wenigstens kurz nachschauen können, ob das kopierte Werk die Informationen der Universität Neuchâtel (Neuenburg) korrekt verwurstet hat. Eine kritische Prüfung hätte sich gelohnt.

[image]Die "Medienmitteilung" der Uhrmacherin Rebekka Meier, Präsidentin des Vereins Schutz vor Strahlung, datiert vom 16. Januar 2023. Das ist heute sechs Tage her, aber laut Google News hat keine der großen Nachrichtenplattform angebissen. Das war zu erwarten. Denn die sogenannten Medienmitteilungen aus der Anti-Mobilfunk-Szene sind so tendenziös, irreführend und fehlerhaft, dass sie von renommierten Medien seit vielen Jahren fast ausnahmslos verschmäht werden. Mit ihren "Medienmitteilungen" erwecken die Anti-Mobilfunk-Vereine lediglich den Eindruck reger Pressearbeit, in Wirklichkeit kursieren ihre Pamphlete nicht in der Welt, sondern in den Echokammern der Szene.

Meier interpretiert den Bericht der Universität Neuenburg gleich zu Beginn ihres Textes gewohnt dramatisch und behauptet:

[...] Die schädliche Wirkung von nicht-ionisierender Strahlung auf Insekten gilt als nachgewiesen. [...] Besonders der massive Ausbau des Mobilfunknetzes auf 5G ist eine ernstzunehmende Gefahr für unsere Ökosysteme und würde zum Insektensterben beitragen.

Die Zusammenfassung durch die Autoren des Berichts (siehe Startposting) widerspricht der Interpretation der Uhrmacherin deutlich. Vor allem findet sich in dem Bericht Meiers Behauptung nicht wieder, auch nicht sinngemäß, besonders der massive Ausbau des 5G-Mobilfunknetzes sei eine ernstzunehmende Gefahr für unsere Ökosysteme und würde zum Insektensterben beitragen. Meier muss bei dieser Passage von eigenem Wunschdenken überwältigt worden sein und legt ihre Sicht der Dinge den Autoren in den Mund. Finden Journalisten in einer Medienmitteilung eine solche versteckte Tellermine, ist dem Werk der Papierkorb sicher. Verständlich: Kein seriöser Medienvertreter lässt sich gerne an der Nase herumführen und zum Erfüllungsgehilfen der Verlautbarungen missionarisch tätiger Interessenvertreter degradieren.

Meier fordert Grenzwerte für Arthropoden

Meier beklagt, zum Schutz von Insekten und anderen freilebenden Tieren gäbe es in der Schweiz keine Grenzwerte. Das stimmt. Und das stimmt sogar für alle Länder der Welt. Doch wie sollte es auch anders sein, wenn Meier selbst einräumt, der 2022 angefertigte Bericht der Uni Neuenburg sei der erste, der die bisher publizierte Studienlage zu den Auswirkungen von EMF auf Gliederfüßer systematisch untersucht und bewertet hat. Die junge Risikobewertung für Arthropoden ist noch nicht einmal ein halbes Jahr alt und liegt derzeit allein dem Auftraggeber als Abschlussbericht vor. Die Wissenschaft weiß von dem Papier nichts, da die wissenschaftliche Publikation inklusive Peer-Review in einem Journal (noch) fehlt. Dieses Defizit wird wahrscheinlich in absehbarer Zeit mit einer entsprechenden Veröffentlichung beseitigt, erst dann kann die wissenschaftliche Gemeinschaft Kenntnis von der Review nehmen, diese dem Stand des Wissens einverleiben und gezielt, wie von den Autoren des Berichts empfohlen, weiter forschen, um Verdachtsmomente zu widerlegen oder zu bestätigen. Erst wenn dieser Prozess zu gesicherten neuen Erkenntnissen geführt hat, was etliche Jahre dauern wird, erst dann können ggf. sinnvolle Maßnahmen zum Schutz von Gliederfüßern und anderem für Ökosysteme nützlichem Getier ergriffen werden. Doch eine Mücke macht noch keinen Sommer. Eine Studie ist in der Wissenschaft üblicherweise nur ein Mosaikstein in einem Gesamtbild, das sich nicht ruckartig verändert, sondern allmählich. Wenn Rebekka Meier allein wegen dem jetzt veröffentlichten Abschlussbericht vorprescht und öffentlich ein Konzept zur Reduktion der Emission elektromagnetischer Felder fordert, ist dies vor allem eines: dilettantisch. Die Frau aus der Schweizer Uhrmacherstadt Grenchen empfiehlt sich damit nachdrücklich, die Nachfolge des scheidenden Gigaherz-Präsidenten Jakob anzutreten.

Was Drosten Meier voraus hat

Anmaßend wie viele Mobilfunkgegner glaubt die forsche Vereinspräsidentin beurteilen zu können, der Bericht sei von "hoher Qualität", die Bewertungen der einzelnen Studien seien "transparent und nachvollziehbar". Das mag sein, aber kann eine Uhrmacherin das so kompetent beurteilen wie Wissenschaftler vom Fach? Sicher nicht! Die sympathische Demut des bekannten deutschen Virologen Christian Drosten fehlt Meier. Für mich als Laie sind z.B. Viren und Bakterien meist gefährliche Winzlinge, die allesamt derselben Fakultät angehören. Würde ein Virologe mir etwas über Bakterien erzählen, Zweifel kämen mir nicht in den Sinn. Drosten aber sagte, er könne sich allein zu Viren äußern. Nie würde es ihm einfallen, fachliche Kommentare über Bakterien vom Stapel zu lassen, denn von denen verstünde er nichts. Was Drosten von Bakterien trennt, dürfte im Vergleich zu dem Abgrund, der die Uhrmacherin von Gliederfüßern trennt, freilich nur eine Bodendelle sein. Immerhin erhielt Meier Beistand von einer wissenschaftlich kompetenten Stimme, die, nach allerdings nur kurzer Durchsicht des Papiers aus Neuenburg zwar diverse Details kritisierte, insgesamt aber ein ebenfalls positives Urteil über den Bericht fällte.

Ein Gläschen in Ehren, kann niemand verwehren

Rätselhaft ist, wie Meier behaupten kann "Von den 164 Studienergebnissen lieferten 132 negative Effekte [...]." Der Bericht scheidet als Quelle aus, denn dort ist an keiner Stelle von 164 Studienergebnissen oder 132 negativen Effekten die Rede. Hat die engagierte Mobilfunkgegnerin möglicherweise einen Zacken in der Krone gehabt, als sie ihre "Medienmitteilung" schrieb? Schuster, bleib bei deinem Leisten. Würde Meier Uhren mit derselben Präzision reparieren, wie sie textet, sie wäre wahrscheinlich längst pleite. Fakt ist: Die Autoren des Berichts haben von anfänglich 4409 Studien nach dem Ausschluss unpassender Papers 127 Studien für ihre Übersicht verwendet (Seite 17). Da aber mehrere der 127 Studien mehr als einen der drei untersuchten Frequenzbereiche abdeckten, standen ihnen faktisch 132 Studien (nicht Effekte) zur Verfügung (Seite 18). An anderer Stelle (Seite 21) sind es nicht 132, sondern 134 Studien. Nach der Ursache dieses Widerspruchs habe ich nicht gesucht.

Gliederfüßer oder Gliederfüßler, das ist hier die Frage

Gehen wir zum Schluss noch kurz der Frage nach, ob Arthropoden nun Gliederfüßer sind, oder Gliederfüßler. Gemäß Duden gibt es nur Gliederfüßer, das Wiktionary lässt dazu Gliederfüßler als Synonym zu, was Kreuzworträtselfans freut. Grundfalsch ist Meiers Wortwahl also nicht. Aber altmodisch. Dies zeigen die Wortverlaufskuven der beiden Begriffe. Die Neigung Gliederfüßer zu schreiben hat seit etwa der Jahrtausendwende deutlich zugenommen, sein Synonym ist dagegen seit Mitte der 1990-er Jahre stetig im Sinkflug. Die Uhrmacherin hat als Mobilfunkgegnerin aus meiner Sicht eine abseitige Freizeitbeschäftigung, zu der die Auswahl des abseitig gewordenen Begriffs Gliederfüßler gut passt. Möglicherweise war aber auch nur der wuselnde "Tausendfüßler" für sie prägend. Passt ebenfalls. Wegen der Lust an maßloser Übertreibung, die im Namen des Tierchens zum Ausdruck kommt und von Mobilfunkgegnern aller Couleur hingebungsvoll praktiziert wird. Doch da gibt es zwei Haken: Zum einen wurde auch dieser Füßler inzwischen zum Füßer, zum anderen wurden ihm auch noch 900 seiner Füße amputiert, so dass der gute alte Tausenfüßler heutzutage als Hundertfüßer auf die Jagd gehen muss.

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– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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Qualität, Schutz vor Strahlung, Rebekka Meier, Arthropoden, Gliederfüßler, Gliederfüßer

EMF-Wirkung auf Gliederfüß[l]er begeistert Rebekka Meier

Gustav, Montag, 23.01.2023, 09:21 (vor 656 Tagen) @ H. Lamarr

Doch da gibt es zwei Haken: Zum einen wurde auch dieser Füßler inzwischen zum Füßer, zum anderen wurden ihm auch noch 900 seiner Füße amputiert, so dass der gute alte Tausenfüßler heutzutage als Hundertfüßer auf die Jagd gehen muss.

Verstehe ich sie richtig? Tiere die man früher als Tausenfüßler bezeichnete, nennt man heute Hundertfüßer?

Stimmt nicht ganz. Hundertfüßer sind eine Klasse innerhalb des Unterstamms Tausendfüßer.
Tausendfüßer sind meistens Pflanzenfresser, Hundertfüßer hingegen Jäger.

Was die Anzahl der Beine betrifft, gibt es laut Wikipedia tatsächlich Tausenfüßer Exemplare mit mehr als 1000 Beinen, bzw. Hundertfüßer mit mehr als 100 Beinpaaren.

EMF-Wirkung auf Gliederfüß[l]er begeistert Rebekka Meier

H. Lamarr @, München, Montag, 23.01.2023, 13:46 (vor 656 Tagen) @ Gustav

Verstehe ich sie richtig? Tiere die man früher als Tausenfüßler bezeichnete, nennt man heute Hundertfüßer?

Ja, richtig. Da habe ich Mist gebaut und auf der Zielgeraden schlecht recherchiert. "Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal Fresse halten": Das gilt ohne Wenn & Aber auch für mich :yes:.

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EMF-Wirkung auf Gliederfüßer, Version 1.1

H. Lamarr @, München, Donnerstag, 08.06.2023, 23:58 (vor 520 Tagen) @ H. Lamarr

Im Auftrag des Schweizer Bundesamtes für Umwelt (Bafu) untersuchten Forscher der Universität Neuenburg mit einer Literaturauswertung die Wirkung von nichtionisierender Strahlung (NIS) auf Arthropoden (Gliederfüßer).

Der Bericht wurde überarbeitet und liegt nun in Version 1.1 vom 24. April 2023 vor. Einige kleinere Unstimmigkeiten zwischen Zahlenwerten im Text und in den Tabellen wurden beseitigt. Einige kleinere Verbesserungen des Textes durch Austausch mit treffenderen Begriffen wurden vorgenommen. Die Analyse und die Schlussfolgerungen des Berichts bleiben unverändert. Die vollständige Liste der Änderungen befindet sich im Anhang.

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