Demokratie in der Wissenschaft: Mehrheit siegt? (Forschung)
Bei manchen Risiken für die Weltbevölkerung tut sich die Wissenschaft schwer, das entscheidende Machtwort zu sprechen, ob Gefahr für Leib und Leben gegeben ist oder eben nicht. Bis sie z.B. Tabakkonsum zweifelsfrei als tödliches Risiko einstufte, benötigte die Wissenschaft etliche Jahrzehnte. Diese Ungewissheit bremste politische Maßnahmen aus und kostete Millionen von Rauchern das Leben. Ein Pilotprojekt unter Leitung von Wissenschaftlern der britischen Universität Durham will nun testen, ob sich der Prozess der breiten Meinungsbildung über wissenschaftliche Streitthemen drastisch verkürzen lässt, wenn das demokratische Mehrheitsprinzip auch in der Wissenschaft gilt. Ist dies das Ende der schier endlosen Risikodebatten über Mobilfunk und Klimaerwärmung?
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Das Pilotprojekt (Laufzeit bis 2023) will die Machbarkeit eines "Institute for Ascertaining Scientific Consensus" (IASC, Institut für die Bestimmung des wissenschaftlichen Konsenses) ausloten. Denn angesichts der Kakophonie wissenschaftlicher und pseudowissenschaftlicher Stimmen in den Medien – das Spektrum reicht von gut informiert bis hirnrissig – ist es heute schwieriger denn je, den wissenschaftlichen Konsens zu wichtigen Themen auszumachen. Fake-News oder alternative Fakten konkurrieren mit wissenschaftlichen Fakten und Laien sind mangels Fachkenntnis überfordert, die auf sie einstürmenden Informationen kundig zu bewerten. Über die sogenannten soziale Medien gewinnen Randgruppen einen übergroßen Einfluss auf die öffentliche Meinung zu wichtigen wissenschaftlichen Themen wie den Nutzen von Covid-Impfungen, dem Tragen von Gesichtsmasken oder der Frage, ob der Klimawandel vom Menschen verursacht wird. Eine vertrauenswürdige Methode zum Vermitteln des wissenschaftlichen Konsenses in solchen Streitfragen könnte de-eskalierend wirken.
Verbindliche Messungen sollen unverbindliche Deutungen ersetzen
Herrscht über wissenschaftliche Fakten ein solider grenzüberschreitender Konsens in der wissenschaftlichen Gemeinschaft, gelten diese Fakten als gesicherte wissenschaftliche Tatsache. In diesem Sinne sollten sich robuste wissenschaftliche Faktenlage maßgeblich durch die Messung der Stärke des wissenschaftlichen Konsenses identifizieren lassen, aber auch durch die Untersuchung der epistemischen Tugenden und Untugenden der jeweiligen Expertengemeinschaft. Ist der so gemessene Konsens hoch (eindeutig), ist die Faktenlage höchstwahrscheinlich belastbar und die Politik hat eine klare Handlungsgrundlage. Eine auf diese Weise untersuchte Fragestellung könnte z.B. lauten: Bieten die gegenwärtig von Icnirp empfohlenen HF-EMF-Grenzwerte einen hinreichend zuverlässigen Schutz der Bevölkerung vor Gesundheitsschädigungen? Ist der Konsens hingegen schwach (uneindeutig), ist die Faktenlage höchstwahrscheinlich nicht belastbar, die Politik hat keine stabile Handlungsgrundlage, kann aber gezielt Geld in klärende Forschungsprojekte pumpen.
In einer Untersuchung an der Universität Durham wurde dieser Ansatz im Juni 2022 an 361 Wissenschaftlern erprobt. Die dabei angewandte Methode erlaubt es im Prinzip innerhalb weniger Tage die Meinungen von bis zu 100'000 Wissenschaftlern zu einer beliebigen wissenschaftlichen Frage abzurufen. So etwas war noch nie zuvor möglich und könnte erhebliche Auswirkungen auf alle haben, die davon profitieren, besser zu verstehen, was eine etablierte wissenschaftliche Tatsache ist und was nicht, einschließlich der Wissenschaftler selbst, der politischen Entscheidungsträger und der breiten Öffentlichkeit.
Vom Verdacht zur Tatsache: Schleichende Übergänge kosten viel Zeit
Projektleiter ist der Philosophieprofessor Peter Vickers, Co-Direktor des Durham Centre for Humanities Engaging Science and Society. Er sagt, Ziel des Projekts sei es, Wissenschaftler aus der ganzen Welt per E-Mail anzusprechen und ihre Meinung zu Themen abzufragen, die in der öffentlichen Diskussion umstritten sind. Die Ergebnisse dieser Umfragen sollen veröffentlicht werden, damit jeder den Grad der Übereinstimmung seines Standpunkts mit den Meinungen der wissenschaftlichen Gemeinschaft erkennen kann.
"Die Menschheit hatte noch nie eine Möglichkeit, die Meinung der wissenschaftlichen Gemeinschaft verlässlich zu messen", erklärt Vickers. Bemühungen hätte es zwar gegeben, diese aber wären stark begrenzt gewesen und hätten sich auf weniger als 2000 Antworten gestützt. "Wir brauchen einen Weg, um die wissenschaftliche Meinung in großem Maßstab und international zu erfassen", fügt er hinzu. Irgendwann im 20. Jahrhundert sei der Verdacht, dass Rauchen Krebs verursacht, als etablierte Tatsache akzeptiert worden, niemand wisse jedoch genau, wann das war. Auch heute noch sei es schwierig den Zeitpunkt genau zu bestimmen, ab dem ein Verdacht kein Verdacht mehr ist, sondern eine Tatsache.
Zweifel säen ohne Erfolg
Die von der Mehrheitsmeinung abweichende Meinung einer kleinen Anzahl von Wissenschaftlern könne leicht einen falschen Eindruck von der tatsächlichen Stärke des wissenschaftlichen Konsenses zu einem Thema vermitteln. Die Tabakindustrie, so Vickers weiter, habe dies in den 1960er und 1970er Jahren genutzt, um Ärzte und Wissenschaftler dazu zu bringen, die Verbindung zwischen Rauchen und Krebs in Frage zu stellen. "Hätte es unser geplantes Institut schon gegeben, als die Wissenschaft gegen Big Tobacco kämpfte, wir wären selbst dann, wenn die Tabakfirmen 100 Wissenschaftler den Zusammenhang mit Krebs hätten anzweifelten lassen, in der Lage gewesen zu zeigen, dass die Zweifler nur eine sehr kleine Minderheit waren."
Munkeln & Raunen haben ausgespielt
Wenn Leute den Eindruck haben, die Wissenschaft habe bei bestimmten Themen eine 50:50-Pattsituation, kann das tatsächliche Verhältnis z.B. bei 80:20 liegen. In der Mobilfunkdebatte benutzen Kritiker den Begriff "Pattsituation" tatsächlich, um belegfrei zu ihren Gunsten ein wissenschaftlich ausgewogenes Kräfteverhältnis vorzutäuschen. Vickers: Die Öffentlichkeit mit konkreten Zahlen zu informieren, könnte helfen, falsche Vorstellungen über die wahren Kräfteverhältnisse in der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu korrigieren. Zudem könnten solche Informationen Licht ins Dunkel bringen, in welchen Ländern oder Teilen der Welt Experten die Dinge anders sehen als das Gros ihrer Kollegen.
Wissenschaftler von sechs Kontinenten haben sich bereits gefunden, die erste Testphase des Pilotprojekts zu unterstützen. Jim Al-Khalili, Professor für theoretische Physik an der Universität von Surrey und Moderator der BBC-Sendung The Life Scientific, gehört zu den Dutzenden von führenden Wissenschaftlern, die sich bereit erklärt haben, dem Beirat anzugehören.
Vickers vs. Schiller
Vickers ist zuversichtlich: "Niemand weiß wirklich, wann wir einen wissenschaftlichen Verdacht als Tatsache betrachten dürfen, aber wenn wir in einer Streitfrage auf eine 95-prozentige Übereinstimmung in der Wissenschaft verweisen können, dann kann man sicherlich ein Urteil darüber fällen."
Klingt plausibel und vielversprechend.
Doch Friedrich Schiller (1759 – 1805) hält dagegen: "Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen; Der Staat muss untergehen, früh oder spät, wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet."
Und nun?
Quellen
► Institute for Ascertaining Scientific Consensus
► ‘Institute for scientific facts’ aims to smash fake news
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –