Hörgeräte: "Elektrosensible" mit Ladenhütern glücklich machen (Elektrosensibilität)

H. Lamarr @, München, Dienstag, 31.01.2023, 21:57 (vor 585 Tagen) @ H. Lamarr

Der Zuger-Hörgeräteakustiker Nico Tomasini hat sich auf elektrosensible Personen spezialisiert.

In einer Ecke seiner Website gibt Herr Tomasini Auskunft, wie das mit "elektrosensiblen" Personen in seinem Kundenkreis so läuft. Tomasini mag ein hervorragender Hörgeräteakustiker aus Leidenschaft sein, ein guter Texter ist er nicht. Andererseits: Hörgeräte ohne Bluetooth werden bald unverkäuflich sein. Auslaufmodelle deshalb in größerem Stil jetzt günstig erwerben, den Ladenhütern das exklusive Etikett "strahlungsfrei" als (teures?) Alleinstellungsmerkmal verpassen und "Elektrosensible" damit rundum glücklich machen, das halte ich für eine pfiffige zukunftssichere Geschäftsidee.

Wie im Startposting sind folgend Textpassagen der Quelle (hier Tomasinis Webseite) im Zitatformat des IZgMF-Forums formatiert und im Folgeabsatz von mir einfühlsam kommentiert.

Ein heikles Thema ist und bleibt die Strahlung. Viele Menschen verdrehen nur den Kopf, wenn sie hören, dass sich jemand über den Elektrosmog beschwert.

Die Augen! Menschen verdrehen nicht den Kopf, sondern die Augen, wenn sie hören, dass sich jemand über Elektrosmog beschwert.

Studien sind sich uneinig und kommen auf keinen grünen Zweig.

Wissenschaftler sind sich uneinig, nicht ihre Studien. Und auf "keinen grünen Zweig kommen" bedeutet erfolglos zu sein. In Icnirp organisierte Wissenschaftler sind jedoch äußerst erfolgreich gewesen, ihre Grenzwertempfehlungen wurden von gut 40 Ländern von Nordamerika bis Australien ohne Änderung übernommen (Stand 2009), auch wenn das einigen Langzeitbesorgten, die auf keinen grünen Zweig kommen, ein Dorn im Auge ist.

Eine Schwierigkeit ist es die korrekte Aussage zu treffen welche Antwort wahr oder falsch ist.

Stimmt, für Laien ist das schwierig. Weltweit gibt es jedoch ungefähr 30 Expertenkommissionen, die regelmäßig prüfen, ob die Icnirp-Grenzwerte noch zeitgemäß sind. Die hatten bislang keine Schwierigkeiten, nach jeder Prüfung grünes Licht zu geben. Unwahrscheinlich, dass die alle gekauft worden sind, wenn auch einige der Experten in mehreren Kommissionen sitzen.

Laut Strahlenschutz haben Bluetoothgeräte eine Strahlung von 200mW. Hörgeräte sind hingegen bei 0.2mW.

Nein, der Maximalwert stimmt hinten und vorne nicht. Bluetoothgeräte "haben" auch keine Strahlung (wie "Saldo" benutzt Tomasini auffällig gerne den Dysphemísmus "Strahlung"), sondern sie erzeugen Funkfelder durch Einspeisen von Sendeleistung (gemessen in Milliwatt) in eine Antenne. Die maximale Sendeleistung ist bei Bluetooth auf 100 mW begrenzt, 200 mW ist falsch (wahrscheinlich verwechselt mit 5-GHz-Wlan), das sollte Herr Tomasini schleunigst korrigieren, wenn ihm sein Ruf wichtig ist. Mehr zu Bluetooth-Sendeleistungen gibt es aus erster Hand bei der Bluetooth Special Interest Group. Wenn einer über Bluetooth Bescheid weiß, dann die.

Ist Strahlung bei Hörgeräten jetzt schädlich? Nico Tomasini, Hörgeräteakustikmeister, stellt sich dieser komplexen Frage. «Fakt ist, dass Menschen diese Strahlung beim Tragen von Hörgeräten spüren. Sie empfinden Kopfschmerzen, Müdigkeit, Spannung im Kiefer und Unwohlsein. Steigt man nun um auf ein strahlungsfreies Hörgerät, so sind diese Symptome verschwunden. Das hat die Erfahrung gezeigt.

Ich finde die Frage gar nicht komplex, sondern simpel. Selbstverständlich ist die Funkemission eines Hörgeräts völlig unschädlich. Und es ist auch kein "Fakt", dass Menschen diese Strahlung beim Tragen von Hörgeräten spüren. Herr Tomasini tischt hier eine unhaltbare Tatsachenbehauptung auf, die seinen Geschäftsinteressen dient, die er aber nicht hieb- und stichfest belegen kann. Wahrscheinlich gibt er lediglich die Meinungsbekundung eines "elektrosensiblen" Kunden ungeprüft als Tatsache aus. In Deutschland könnte ihm mit dem Vorwurf unlauteren Wettbewerbs ein Strick daraus gedreht werden, denn er wirbt mit Angst und beeinflusst auf diese Weise die Entscheidungsfreiheit von (besorgten) Kunden auf sachwidrige Weise (Volker Nickel, Werbung in Grenzen, ZAW 1994). Tomasinis "Erfahrung", nach Umstieg auf ein strahlungsfreies Hörgerät, seien die Symptome verschwunden, ist trivial. Warum, das erklärt der vor rd. 100 Jahren entdeckte Hawthorne-Effekt, der in der Wissenschaft zu einfacher und doppelter "Verblindung" in Studiendesigns geführt hat, um den Einfluss der Psyche als Störfaktor auszuschalten. Wenn der Hörgeräteakustikmeister wollte, könnte er die Wirkung des Effekts mühelos selbst testen, indem er "elektrosensiblen" Kunden ein Bluetooth-Gerät als strahlungsfrei empfiehlt und unter Aufsicht tragen lässt.

Viele, wenn nicht sogar alle Betroffene werden das Gerät im Glauben an dessen "Strahlungsfreiheit" positiv bewerten und keine Symptome entwickeln. Dies funktioniert jedoch nur unter Aufsicht, denn nahezu alle "Elektrosensible" haben einen oder mehrere Elektrosmog-Detektoren, mit denen sie, z.B. wenn sie sich unbeobachtet fühlen, Funkimmissionen technisch feststellen können. Entlässt Tomasini seine Spezialkunden samt Hörgerät nicht nachhause, sondern behält sie in seinem Laden, ließe sich auch so eine Mogelei ggf. mühelos beobachten. Ethisch anständig wäre dies jedoch nicht. Würde Tomasini auffliegen und publik, dass er seine "elektrosensiblen" Kunden "ausspioniert", seiner Umsatzkurve dürfte ein Knick nach unten sicher sein. Ergo wird er die Finger von solchen Tests lassen. Ersatzweise könnte er zwar mit offenen Karten spielen und seine Kunden einweihen, doch das ist wieder eine ganz andere Geschichte, die komplizierter ist als es scheint und mit den Geschäftsinteressen eines Hörgeräteakustikers schwerlich in Einklang zu bringen ist.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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