Sickerwege der Desinformation – Beispiel Bad Feilnbach (Allgemein)
Nach dem unspektakulären Abschluss des Deutschen Mobilfunk-Forschungsprogramms stellten ab 2008 etliche kleine Anti-Mobilfunk-Vereine ihre eigenen Aktivitäten ein oder flüchteten sich unter die Fittiche von Diagnose-Funk. Seither ist der Stuttgarter Verein die wichtigste Informationsquelle, die mit alternativen Fakten die Anti-Mobilfunk-Szene in Deutschland und Österreich mit Alarmmeldungen versorgt. Erkennbar ist dies nicht immer. Hier das Beispiel eines Sickerwegs.
Wir sind im Chiemgau, Bayern, genauer in der 7'500-Seelen-Gemeinde Bad Feilnbach. Seit 2020 gastiert dort der Anti-Mobilfunk-Zirkus mit diversen Auftritten der einschlägig bekannten Referenten. Die örtliche Bürgerinitiative "Gesundheit vor 5G" wird angeführt von Andrea Erhart-Leicht, die im benachbarten Kufstein, Österreich, an einem Gymnasium als Lehrerin tätig ist (Psychologie und Philosophie).
Am 19. Mai 2021 fand in einer Turnhalle von Bad Feilnbach eine 4½-stündige Bürgerversammlung zum Thema Mobilfunk statt. Die BI hatte diese mit einer Unterschriftensammlung der Gemeinde aufgezwungen. Fünf Referenten trugen vor:
► Thomas Kurz, Bayerisches Landesamt für Umwelt, Dienststelle Hof
► Jörn Gutbier, Verein Diagnose-Funk, Stuttgart
► Hans Schmidt, selbstdeklarierter "Elektrosensibler" aus Wolfratshausen
► Jürgen Busse, Rechtsanwalt, München
► Ronald Fabian, Techcom Consulting GmbH, Oberhaching
Nach dem Referat von Thomas Kurz meldete sich Andrea Erhart-Leicht zu Wort und ließ die etwa 50 Präsenzteilnehmer (weitere 80 verfolgten die Veranstaltung online) wissen (Video, Stunde 1:31:50, ein Einbetten des Videos hier auf der Seite lässt die Gemeinde Bad Feilnbach nicht mehr zu):
Ich bin jetzt etwas unruhig geworden, sehr beunruhigt geworden, und zwar zum einen wenn Sie sagen, dass es in der Wissenschaft nur Wahrscheinlichkeiten gibt, es aber sehr viele Studien gibt, die einfach belegen, dass es schädigende Wirkungen weit unter diesem thermischen Effekt gibt. Ich möchte benennen, dass die Universität Bern, eine renommierte Universität, die auch Berater der Schweizer Regierung ist, und die haben einfach festgestellt, dass es oxidativen Stress als Wirkmechanismus für die Schädigung durch Mobilfunk gibt. Die haben das nachgewiesen. Genauso gut gibt es neuere Untersuchungen, also ich spreche von Untersuchungen aus dem Jahr 2018 Betzalel, Russel, Ciaula. Und die Ergebnisse dieser Studien zu den extrem kurzwelligen Frequenzen nahe dem Millimeterwellenbereich, die sind so besorgniserregend, dass Wissenschaftler einen Ausbaustopp fordern. Und ebenso die WHO, die sie erwähnt haben, diskutiert sehr rege, sehr intensiv seit 2019 darüber, ob sie die Mobilfunkstrahlung von potenziell krebserregend auf wahrscheinlich Krebserregend oder überhaupt in die höchste Stufe krebserregend einstufen. Deswegen bin ich jetzt sehr zappelig geworden, ich musste mich jetzt am Stuhl bewegen, denn ich frage mich, wie kann es sein, das ein Bundesamt für Strahlenschutz so wesentliche Studien, die sie einfach abtun als wahrscheinlich oder unwissenschaftlich, ich weiß nicht wie sich die Universität Bern dazu äußern würde als Berater der Schweizerischen Regierung. Es beunruhigt mich sehr und ich kann deswegen ihren Ausführungen wirklich jetzt nur meinen Unmut und meine große Besorgnis gegenüber ausdrücken, da es um uns Menschen geht. Es geht um mich, die Familie, es geht um den ganzen Ort, es geht um die ganze Menschheit, die ganze Welt. [...]
Jeder Stammleser dieses Forums wird die gebündelte Desinformation, die Erhart-Leicht hier stockend vorträgt, auf Anhieb erkennen, ich gehe daher nicht weiter darauf ein. Für interessanter erachte ich, woher die Sprecherin der BI ihre verzerrte Wahrnehmung der Realität bezogen hat, denn Diagnose-Funk erwähnt sie mit keinem Wort. Erst eine Quellenrecherche führt wiederholt zurück zu dem Stuttgarter Verein.
Universität Bern, Berater der Schweizer Regierung
Auffällig sind zu Beginn die übertriebenen Meriten, mit denen Erhart-Leicht die Universität Bern als bedeutsame Autorität in EMF-Risikofragen darstellt. Erhart-Leicht redet, ohne genauer darauf einzugehen, von einer narrativen Review über oxidativen Stress. Diese Anfang 2021 publizierte Literaturübersicht wurde jedoch keineswegs allein von der Universität Bern erstellt, sondern von der Autorin Meike Mevissen, Universität Bern und dem Autor David Schürmann, Universität Basel. Wer also behauptet fälschlich, die Arbeit sei allein der Universität Bern zu verdanken? Die Spur führt geradewegs zu Diagnose-Funk. Am Linkziel behaupten die Stuttgarter, die Review sei von der Schweizer Regierung finanziert worden. Auch diese Irreführung ist auf den starken Drang der Stuttgarter zum Dramatisieren zurück zu führen. Denn die Schweizer Regierung hat ganz sicher Wichtigeres im Sinn, als sich um narrative Literaturstudien zu kümmern. Richtig ist, die Studie entstand im Auftrag des Schweizer Bundesamtes für Umwelt (Bafu) und sie hat keineswegs "oxidativen Stress als Wirkmechanismus für die Schädigung durch Mobilfunk [...] nachgewiesen", sondern aus Sicht der Autoren lediglich Hinweise zugunsten dieser Behauptung gefunden. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch sind Hinweise die schwächste Form der Evidenz.
Ebenfalls Wichtigmacherei ist die Behauptung, die Universität Bern sei "Berater der Schweizer Regierung". Erhart-Leicht verfälscht hier eine typische Sprechblase von Diagnose-Funk. Richtig ist: Seit 2014 beruft das Bafu regelmäßig zur eigenen fachlichen Unterstützung eine beratende Expertengruppe Nis (Berenis) ein. Dieses Gremium umfasst gegenwärtig sieben Schweizer EMF-Wissenschaftler, darunter als einzige Vertreterin der Universität Bern Meike Mevissen. Die Universität Basel stellt drei Teilnehmer.
Hätte Frau Erhart-Leicht sich nicht bequem auf die Blähboys von Diagnose-Funk verlassen, sondern selbst bei Primärquellen recherchiert, dieses für sie unangenehme Posting wäre ihr erspart geblieben. So aber geht die Schelte noch ein Stückchen weiter.
Betzalel, Russel, Ciaula: Namen sind Schall & Rauch
Auch die im gesprochenen Wort zum Teil kaum verständliche Autoren Betzalel, Russel, Ciaula wurden nicht von der BI-Sprecherin entdeckt, sondern ihr von Diagnose-Funk in einem gefilterten Sammelsurium von 5G-Alarmstudien verzehrfertig serviert. Die drei Namen unbekannter Wissenschaftler vor unbedarftem Publikum aufzuzählen, sollte anscheinend Fachkompetenz der Sprecherin vorgaukeln, ein anderer Zweck wollte mir partout nicht einfallen. Drei Namen sind bei einem Kollektiv von ungefähr 1000 Wissenschaftlern, die sich weltweit mit Forschung in der Bioelektromagnetik beschäftigen, jedoch nicht mehr als drei Tropfen auf einen heißen Stein.
Erhart-Leicht muss noch lernen, einzelne Alarmstudien sind von geringer Bedeutung, solange sie nicht von anderen Forschern repliziert werden konnten. Gar nicht zu reden von möglichen Qualitätsmängeln dieser Studien und deren Einordnung ins wissenschaftliche Gesamtbild, was für Laien schier ein Ding der Unmöglichkeit ist. Da Diagnose-Funk alles ignoriert, was nicht alarmierende oder wenigstens beunruhigende Ergebnisse zeigt, ist es von Erhart-Leicht sträflich unprofessionell und leichtsinnig, sich allein auf das zu stützen, was der Stuttgarter Verein verbreitet.
Wissenschaftlerappell von Hardell & Nyberg: Schein vs. Sein
Zum Schluss noch der Klassiker: Der 5G-"Ausbaustopp", den angeblich Wissenschaftler fordern. Die Lehrkraft hat sich auch diese Behauptung aus den trüben Gewässern von Diagnose-Funk geangelt. Dumm nur, dass diese Forderung bereits im September 2017 ausgerufen wurde, also noch bevor Erhart-Leichts Belastungszeugen Betzalel, Russel und Ciaula 2018 ihre Alarmstudien überhaupt publiziert hatten. Die drei können somit ganz sicher nicht der Anlass für den sogenannten Wissenschaftlerappell von Hardell und Nyberg gewesen sein. Was von diesem Appell zu halten ist, haben wir hier ausgiebig ventiliert, das Prädikat "Wissenschaftlerappell" ist, zumindest was die Teilnehmer aus Deutschland anbelangt, eine Farce.
Fazit
Frau Erhart-Leicht mag eine gute Lehrerin sein, als Mobilfunkkritikerin ist sie ein Abziehbild von Diagnose-Funk. Das reicht bei Weitem nicht, um als Kritikerin ernst genommen zu werden, denn schon das Stuttgarter Original wird in Fachkreisen eher belächelt als gefürchtet. Möglicherweise weiß das auch die Lehrerin und hat deshalb ihre fadenscheinige Quelle konsequent verschwiegen. Die Quellensuche hat die selbsternannte Expertin jedoch als "Stopfgans" überführt, die sich von den Stuttgartern füttern lässt. Ganz nebenbei führt die Recherche zu der Erkenntnis: Die deutsche Anti-Mobilfunk-Szene hat die Form einer Pyramide, die auf ihrer Spitze (Diagnose-Funk) steht. Fällt Diagnose-Funk als zentrale Desinformationsquelle ersatzlos aus, wird die Szene mangels Nachschub wahrscheinlich ziemlich schnell austrocknen und die mit Argumentationsmüll gefüllte Pyramide zusammen brechen. Ein guter Grund, dem Stuttgarter Verein mehr skeptische Zuwendung zu schenken, wäre er doch nur bedeutsamer als er ist .
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –
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H. Lamarr,
28.11.2021, 19:57
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