EGMR-Urteil: Katharina Luginbühl gegen die Schweiz (I) (Elektrosensibilität)

H. Lamarr @, München, Mittwoch, 21.03.2018, 15:21 (vor 2246 Tagen)

Frau Luginbühl behauptete vor dem EGMR (Europ. Gerichtshof für Menschenrechte) Gesundheitsbeeinträchtigung durch Mobilfunk und berief sich auf Art. 2, Art. 6 und Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Noch 2005 sagte sie: "Ich hoffe, dass ich in absehbarer Zeit ein wegweisendes Urteil bewirken kann, dass möglicherweise auch anderen Leidensgenossinnen und Leidensgenossen hilft in ihrer Situation." Doch es kam anders. Die Richter am EGMR wiesen am 17.01.2006 die Beschwerde 42756/02 Luginbühls mehrheitlich als unzulässig ab. Nachfolgend ein Auszug aus der (übersetzt deutschsprachigen) Entscheidung des EGMR, die vom österreichischen Bundesministerium für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort im "Rechtsinformationssystem des Bundes" online veröffentlicht wurde. Das Original der Entscheidung gibt es ausschließlich auf französisch.

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Begründung

Sachverhalt

In Flawil, Kanton St. Gallen, beabsichtigten zwei private Mobilfunkanbieter den Ausbau einer Mobilfunkanlage. Trotz zahlreicher Anrainerproteste wurde das Projekt vom Planungsamt genehmigt und eine Baubewilligung erteilt. Ein dagegen eingebrachtes Rechtsmittel der Bf. wurde vom Baudepartement verworfen. Sie brachte daraufhin eine Klage beim Verwaltungsgericht ein, in der sie erfolglos die Annullierung des Bauprojekts und die Abhaltung einer öffentlichen Verhandlung verlangte. Sie wandte sich darauf mit einer Beschwerde an das Bundesgericht.

Unter Berufung auf Art. 8 EMRK brachte die Bf. [Beschwerdeführerin] vor, dass die durch die Mobiltelefonie verursachten Emissionen ihre Gesundheit auch im Fall der Einhaltung der Grenzwerte beeinträchtigen könnten. Außerdem machte sie Verletzungen ihres Rechts auf Anhörung durch die Gerichte wegen unzureichender Berücksichtigung ihrer Beweisanträge geltend und verlangte die Abhaltung einer öffentlichen Verhandlung. Mit Urteil vom 15.12.2003 verwarf das Bundesgericht die Verwaltungsbeschwerde der Bf. Begründend führte es aus, dass es grundsätzlich den zuständigen Behörden zukomme, die Entwicklungen auf dem Mobilfunksektor zu beobachten und gegebenenfalls Maßnahmen zu ergreifen, sollte sich herausstellen, dass die Grenzwerte nicht dem Vorsorgeprinzip entsprächen.

Ferner habe das Bundesumweltamt im Jahr 2003 eine wissenschaftliche Studie über allfällige gesundheitsbeeinträchtigende Auswirkungen durch die Mobiltelefonie veröffentlicht. Laut der Studie gäbe es derzeit keine wissenschaftliche Untersuchungen über direkte Auswirkungen von Mobilfunkantennen auf Menschen in deren unmittelbaren Umgebung. Die Frage einer Gesundheitsschädigung sei daher noch ungelöst.

Mittlerweile habe das Bundesumweltamt beim Bundesamt für Bildung und Wissenschaft ein neues Projekt zur Untersuchung von nicht ionisierender Strahlung und ihren Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt angeregt. Die zuständigen Behörden wären durchwegs bestrebt, die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Gebiet der Mobiltelefonie zu verfolgen und würden die Angemessenheit der aktuellen Grenzwerte in regelmäßigen Abständen überprüfen. Eine Sorgfaltspflichtverletzung seitens der Behörden sei somit nicht feststellbar.

Abschließend stellte das Bundesgericht fest, dass Art. 6 EMRK auf den vorliegenden Fall nicht Anwendung finde, da die Bf. nicht behaupten könne, einer ernsthaften Bedrohung ihres körperlichen Wohlbefindens bzw. ihrer Gesundheit ausgesetzt zu sein. Sie könne sich insoweit auch nicht auf eine Verletzung ihres Rechts auf eine Anhörung vor Gericht berufen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren). Sie rügt ferner eine Verletzung ihres Rechts auf Leben gemäß Art. 2 EMRK und ihres Rechts auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 8 EMRK. Sie macht in Verbindung mit Art. 8 EMRK auch Verletzungen von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz) und von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) geltend.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK

Die Bf. behauptet, ihre Angelegenheit sei von den innerstaatlichen Gerichten nicht öffentlich gehört und ihre Beweisanträge nicht ausreichend zur Kenntnis genommen worden.

Der GH hält eine Klärung der Frage der Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK auf den vorliegenden Fall nicht für notwendig, da die einzelnen Beschwerdegründe sich bereits aus anderen Gründen als unzulässig erweisen.

1. Abhaltung einer öffentlichen Verhandlung:

Im Vordergrund des gegenständlichen Rechtsstreits stand die Frage der Gesundheitsschädlichkeit von Mobilfunkantennen. Die nationalen Gerichte konnten sich bei der Beurteilung dieser Frage auf ein beachtliches Dokumentationsmaterial stützen, darunter insbesondere auf eine Studie des Bundesumweltamts aus dem Jahr 2003. Der GH hält fest, dass die nationalen Gerichte im Vergleich zu internationalen Organen weit besser in der Lage sind, wissenschaftliche Kontroversen einer Bewertung zu unterziehen, da sie bereits im Vorhinein mit dem Beschwerde­gegenstand vertraut sind. Der vorliegende Fall hatte vorwiegend die Bewertung von unterschiedlichen wissenschaftlichen Standpunkten zum Gegenstand.

Der GH ist überzeugt, dass sich derartige hochtechnische Fragen besser in einem schriftlichen als in einem öffentlichen Verfahren abhandeln lassen. Es ist nicht erwiesen, dass eine öffentliche Anhörung in Anwesenheit von Zeugen und Experten die Meinungsbildung der Gerichte in entscheidender Weise hätte beeinflussen können. Es lagen somit besondere Umstände für die Nichtabhaltung einer öffentlichen Verhandlung vor den Gerichten vor. Dieser Beschwerdepunkt ist wegen offensichtlicher Unbegründetheit iSd. Art. 35 Abs. 3 EMRK zurückzuweisen.

2. Zur Ablehnung der Beweisanträge:

Im vorliegenden Fall erging das Urteil des Bundesgerichts in einem kontradiktorischen Verfahren, in dem der Bf. Gelegenheit gegeben wurde, auf das Vorbringen der gegnerischen Parteien zu reagieren und Argumente zur Stützung ihres eigenen Standpunkts vorzubringen. Das Höchstgericht stützte sich in seinem Urteil auch auf wissenschaftliche Gutachten von verschiedenen Seiten. Es hat seine Entscheidung nicht nur ausreichend begründet, sondern auch schlüssig dargelegt, aus welchen Gründen es dem Beweisantrag der Bf. nicht Folge leistete. Es bestehen auch keinerlei Anzeichen für willkürliche Schlussfolgerungen.

Der GH gelangt daher angesichts des weiten Ermessensspielraumes der Staaten in „zivilrechtlichen" Streitigkeiten zu dem Ergebnis, dass das Verfahren vor den innerstaatlichen Instanzen insgesamt betrachtet einen fairen Charakter aufwies. Dieser Beschwerdepunkt ist wegen offensichtlicher Unbegründetheit iSd. Art. 35 Abs. 3 EMRK zurückzuweisen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Die Bf. bringt vor, das umstrittene Mobilfunkantennenprojekt sei geeignet, sie als elektrosensible Person in ihrer Gesundheit zu beeinträchtigen.

1. Zur Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK:

Vorab ist festzustellen, dass Eingriffe in das Recht auf Achtung der Wohnung auch durch immaterielle Beeinträchtigungen wie etwa Lärm, Emissionen, Geruch, etc. erfolgen und schwerwiegende Einwirkungen eine Person durchaus am „Genuss" ihrer Wohnung hindern können. Im vorliegenden Fall lebte die Bf. im unmittelbaren Umkreis einer Mobilfunksendeanlage und war als von Emissionen unmittelbar betroffene Person zur Erhebung von Rechtsmitteln vor den nationalen Gerichten berechtigt. Ferner hat das Bundesgericht sie ausdrücklich als elektrosensible Person angesehen. Das Vorbringen der Bf., die direkte Einwirkung und die zu befürchtende Zunahme gesundheitsschädlicher Emissionen durch Mobilfunkantennen stelle einen Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens dar, reicht daher aus, um Art. 8 EMRK für anwendbar zu erklären.

Fortsetzung ...

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Klage, EHS, Recht, Schweiz, Gesundheitsgefahr, Luginbühl, EGMR


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