Direkte Demokratie als Exportschlager? (Allgemein)

hans, Dienstag, 29.11.2011, 23:47 (vor 4559 Tagen) @ H. Lamarr

Aus dem TagesAnzeiger von heute:

Direkte Demokratie als Exportschlager?

Gut möglich, dass die Volksabstimmung über den Stuttgarter Tiefbahnhof dereinst als Durchbruch für die direkte Demokratie in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unsere badischen und schwäbischen Nachbarn haben der skeptischen deutschen Öffentlichkeit gezeigt, welches Potenzial in Volksentscheiden steckt. Erst mit der eigentlich viel zu spät durchgeführten Abstimmung zu Stuttgart 21 hat das Grossprojekt eine demokratische Grundlage erhalten, die auch den vehementesten Gegnern den Wind aus den Segeln nimmt. Wie wir aus unserer Erfahrung wissen, sind Abstimmungskämpfe zwar bisweilen giftig, der Schiedsspruch des Volks trägt jedoch weit mehr als jeder Regierungsentscheid zur Entschärfung gesellschaftlicher Kontroversen bei.

Eine Pille gegen den Protest

Der Entscheid zugunsten von Stuttgart 21 zeigt: Wer am lautesten protestiert und die imposantesten Demonstrationen veranstaltet, vertritt nicht unbedingt die Mehrheit der Bevölkerung. Manch bürgerlicher Politiker, der sich zuvor vehement gegen Volksentscheide stellte, hat wohl gemerkt, dass er mit Volksabstimmungen nach Schweizer Art besser fahren könnte als in einem System, in dem Bürgerproteste die einzige Manifestation des (vermeintlichen) Volkswillens sind.

Nachdem die Minarettabstimmung der Euphorie für die direkte Demokratie in unseren Nachbarländern einen Dämpfer versetzte, wird das Interesse für das Schweizer Modell zweifellos wieder steigen. Übersehen wird jedoch meist, dass die hiesige Direktdemokratie nicht für sich alleine steht. Die Referendumsdemokratie ist eng verknüpft mit der auf Zusammenarbeit ausgerichteten Regierungsform der Konkordanz.

Wer dem Volk eine derart starke Oppositionswaffe wie ein Gesetzesoder Finanzreferendum in die Hand gibt, tut gut daran, im Gegenzug die parlamentarische Opposition zu zähmen und einzubinden. Kalifornien zum Beispiel verbindet eine intensive Direktdemokratie mit einer verbissenen Parteienkonkurrenz. Und gilt heute faktisch als unregierbar.

Anders als die direkte Demokratie hat die Konkordanz ausserhalb der Schweiz jedoch keine begeisterte Anhängerschaft. Dabei ist dieses Regierungsmodell, das nur in der Aussenbetrachtung als kurioser Sonderfall wirkt, absolut zeitgemäss. In den von der Schulden- und Eurokrise geplagten Konkurrenzdemokratien Europas kann die Bevölkerung zwar die Regierung austauschen, die Baustellen und die von diesen Baustellen überforderte Politik bleiben jedoch stets dieselben. Der Verdruss über das unfruchtbare Parteiengezänk hat in Europa zu einer Sehnsucht nach parteifernen Technokraten geführt.

Eine Sehnsucht, die sich im überwältigenden Rückhalt der italienischen Bevölkerung für Mario Montis neu gebildete Regierung von Fachspezialisten spiegelt. Dabei ist heute schon klar, dass im auf Konkurrenz ausgelegten Politsystem Italiens die Schonfrist für Montis Regierung kurz sein wird.

In der Schweiz regieren zwar keine klassischen Technokraten, die Konkordanz hat jedoch eine vergleichbare Wirkung auf die Regierungsarbeit – und dies erst noch nachhaltig. Das Regieren mit Personen aus allen Lagern ist nur möglich, weil sich die Regierungsmitglieder mit ihrer Wahl in den Bundesrat über die parteipolitischen Grabenkämpfe stellen.

Quasi natürliche Technokraten

Der seit kurzem in Europa hochgelobte langweilige Stil der Technokraten zeichnet den Schweizer Bundesrat seit Jahrzehnten aus. Es ist denn auch kein Zufall, dass die deutsche Regierung selten so gut und harmonisch funktionierte wie in der Zeit der Grossen Koalition von 2005 bis 2009. Damals bestand so etwas wie eine Konkordanz auf Zeit.

Was für die direkte Demokratie gilt, gilt aber auch für die Konkordanz: Das eine geht letztlich nicht ohne das andere. Eine breite, überparteilich arbeitende Regierungsallianz kann auf Dauer ihre Stärken nur dann ausspielen, wenn dem Volk genügend starke Kontrollinstrumente in die Hand gegeben werden. Wer die Schweizer Demokratie zum Vorbild nimmt, tut deshalb gut daran, ihre beiden grossen Stärken – Direktdemokratie und Konkordanz – nicht auseinanderzudividieren. Wer das D-Wort sagt, muss auch das K-Wort sagen.

Viel Text und ein entscheidender Satz (rot markiert). Kommt mir irgendwie bekannt vor.

Tags:
Widerstandsnest, Volksentscheid, Basisdemokratie, Demonstrant


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