EWSA hat "Elektrosensibilität" keineswegs anerkannt (I) (Elektrosensibilität)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 12.03.2023, 15:39 (vor 428 Tagen) @ H. Lamarr

Offensichtliche Fehler in der Stellungnahme

Nach Fehlern gesucht habe ich in der Stellungnahme nicht. Wenn ich doch welche gefunden habe, ist dies das Ergebnis einer oberflächlichen Sichtung des Textes. Es kann also gut sein, dass sich der EWSA noch anderweitig Schnitzer geleistet hat.

Weil der Anti-Mobilfunk-Verein Diagnose-Funk die EWSA-Stellungnahme so hingebungsvoll ausschlachtet wie ein Schrottauto, habe ich mir den Text noch einmal angesehen, eine weitere fragwürdige Passage gefunden und diese bis zu ihren Anfängen zurückverfolgt. Das Ergebnis dieser Recherche hat mich selbst überrascht, denn in einem der geprüften EWSA-Dokumente fand sich ein erhellender Hinweis auf die bislang unbekannten Hintermänner, die den EWSA für ihre Zwecke einspannen wollten. Ein Niederländer war es, der das Schlimmste verhinderte.

Unter Ziffer 4.13 ist in dem EU-Amtsblatt C105 vom März 2022 über den EWSA-Beschluss zu lesen:

Das Europäische Parlament (9), der EWSA (10) und der Europarat (11) haben anerkannt, dass Elektrosensibilität bzw. Elektrosensitivität eine Krankheit ist.

Klar, dass Diagnose-Funk diese frohe Botschaft schnellstens unter seinen "elektrosensiblen" Anhängern verbreitet und bei dieser Gelegenheit die Begrifflichkeit von "Elektrosensi..." auf "Elektrohypersensi..." dramatisiert:

Das Europäische Parlament, der EWSA und der Europarat haben anerkannt, dass Elektrohypersensibilität bzw. Elektrohypersensitivität eine Krankheit ist.

Aber stimmt das überhaupt, was da behauptet wird?

Schau'n wir doch mal nach. Die eingeklammerten Zahlen im Zitat oben benennen Quellen. Mit Quelle 10 referenziert das EWSA-Papier auf ein älteres Amtsblatt der EU (C 429) vom Dezember 2020, das auf mehr als 300 Seiten allerlei Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen des EWSA den EU-Bürgern amtlich zur Kenntnis gibt. Und tatsächlich, auf Seite 288 ist zu lesen:

[...] Der EWSA hat das Problem der elektromagnetischen Hypersensitivität (EHS) anerkannt (15) und diesbezüglich seine Sorge zum Ausdruck gebracht. [...]

Aha, man beachte, statt einer "Krankheit" wird jetzt nur noch ein "Problem" anerkannt. Das fängt ja wieder einmal gut an ...

Doch auch an dieser Stelle wird lediglich eine Behauptung aufgestellt und weiter zurück referenziert auf Quelle 15. Dahinter verbirgt sich diesmal das Amtsblatt C 242 vom 23. Juli 2015.

Die darin enthaltene primäre Stellungnahme des EWSA anerkennt "Elektrosensibilität" als Krankheit jedoch nicht. Wie denn auch, EWSA-Mitglieder sind ausnahmslos politische Lobbyisten, von denen bestenfalls einige im erlernten Beruf Ärzte sind. Es wäre anmaßend, wollten Politiker eine Krankheit anerkennen, die noch nicht einmal in der ICD (internationale Klassifikation der Krankheiten) als Krankheit gelistet ist. So findet sich in der Stellungnahme zu dem Suchbegriff "anerk" auch nur ein einziger Treffer:

[...] Im Rahmen von Kampagnen fordern Aktivistengruppen in mehreren Ländern dennoch weiterhin mehr Anerkennung für das wahrgenommene Problem und verstärkte Vorbeugungs- und Abhilfemaßnahmen mit Blick auf die Intensität von EMF und die Verbreitung von Feldquellen. [...]

Wieder einmal ist die Kunst der Darstellung die halbe Karriere. Im Laufe der Jahre haben die Berichterstatter der EWSA-Stellungnahmen aus dem Nichts der Primärquelle von 2015 zunächst ein "Problem" der "Elektrosensiblen" erkannt, das war 2020, und später, 2022, das Problem ohne neue Erkenntnisse, aber weil es dem Berichterstatter so besser gefiel, zu einer "Krankheit" hochstilisiert.

Die Spur führt nach Spanien

Doch es kommt noch besser. Das IZgMF hat sich mit der EWSA-Stellungnahme von 2015 ausführlich auseinandergesetzt und Hintergründe recherchiert. Leider sind viele wichtige Links dort inzwischen tot. Deshalb hier noch einmal eine kurze Zusammenfassung:

► Am 7. Januar 2015 billigte die Fachgruppe "Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft" des EWSA den von Berichterstatter Bernardo Hernandez Bataller vorgelegten Entwurf der Stellungnahme zu "Elektrosensitivität". Dieser Entwurf lässt einem die Haare zu Berge stehen. Anlässlich der Sitzung vom 7. Januar reicht der Niederländer Jan Simons einen Änderungsantrag ein, in dem die schlimmsten Entgleisungen des Entwurfs entweder ersatzlos gelöscht oder abgemildert formuliert werden. Simons begründet seine Eingriffe kurz aber treffend und merkt mehrfach an:

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier und an anderen Stellen versucht wird, sich der spanischen Bürgerinitiative anzuschließen, die der EWSA allerdings nach Ziffer 7.6 noch abwarten will.

Mit der "spanischen Bürgerinitiative" benennt Simons erstmals den ursächlichen Impulsgeber für die EWSA-Stellungnahme von 2015!

Außer Simons' Änderungsantrag wird zu dem Entwurf von Bataller kein weiterer eingereicht.

► Am 20. Januar 2015 tagt das Präsidium des EWSA und beschließt nach Prüfung von Simons' Änderungsantrag, diesen gemäß Artikel 51 Absatz 7 GO als Gegenstellungnahme einzustufen (siehe auch hier).

► Auf seiner 504. Plenartagung (Sitzung vom 21. Januar 2015) lehnt der EWSA die von der Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft erarbeitete Stellungnahme ab und verabschiedete mit 136 gegen 110 Stimmen bei 19 Enthaltungen die Gegenstellungnahme.

Simons Hinweis auf die spanische Bürgerinitiative macht deutlich, wie trickreich die Anti-Mobilfunk-Szene versucht, über Hintertüren den Fuß ins politische Geschäft zu bekommen. In der EWSA-Stellungnahme fehlt jeglicher Hinweis darauf, wer der Initiator war. Der deutsche Verein Diagnose-Funk nutzt diese Vertuschung, um später die Stellungnahme unter dem prestigeträchtigen Etikett zu verwursten, eine EU-Institution habe "Elektrosensibilität" als Krankheit anerkannt. Damit schließt sich der Kreis der "Bürger-Lobbyisten", die mit allen Mitteln irrationale Ängste gegenüber EMF in der Bevölkerung schüren wollen und sich dazu gerne der Autorität von EU-Institutionen bedienen. Wäre das Motiv für diese Durchtriebenheit Altruismus, könnte man es tolerieren, aus meiner Sicht ist das wahre Motiv jedoch die Absicht, materiellen oder immateriellen Profit aus dem Tun zu ziehen. Dass es so ist, dafür haben wir hier im Forum zahllose konkrete Hinweise gesammelt.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
EHS, Desinformation, EWSA, Irrweg, Autorität, Bataller, Hypersensitivität


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