7. Verminderte Fruchtbarkeit kinderloser Männer dramatisiert (Allgemein)
Eine Ende Oktober 2023 veröffentlichte Langzeitstudie (2005 bis 2018) über einen Zusammenhang zwischen der Fertilität von Männern und deren Nutzungsgewohnheiten von Mobiltelefonen inspirierte den Stuttgarter Verein Diagnose-Funk am 9. November 2023 zu einer "Pressemitteilung", die in den Medien keinerlei Echo fand.
Rosinenpicker
Wie üblich pickte sich der Verein aus der Schweizer Studie (Volltext) heraus, was sich zum Schüren von Ängsten gegenüber Mobilfunk eignet, wichtige Einschränken wurden hingegen weggelassen. So fordert Diagnose-Funk großspurig von Umweltministerin Steffi Lemke eine ehrliche und faktenbasierte Aufklärungskampagne zu den Gesundheitsgefahren, die von Mobilfunkstrahlung ausgehe. Dazu gehöre neben Krebs [man beachte, wie einem hier nebenbei eine Tatsachenbehauptung untergeschoben wird] auch die verminderte männliche Fruchtbarkeit. Anlass für die Forderung sei die aufsehenerregende neue Studie der Universität Genf und des Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Instituts Basel. Fast 3.000 Rekruten der Schweizer Armee wären u.a. zum Handygebrauch befragt und ihre Spermiendichte untersucht worden mit dem Ergebnis: 20 Prozent weniger Spermien bei häufiger Handynutzung (20-mal am Tag gegenüber einmal pro Woche). In seinen Vorsorgetipps gibt der Verein u.a. den Rat, Handys nicht in die Hosentasche mit sich zu führen.
Für die Verweigerung der Medien, die "Pressemitteilung" des Vereins zu verbreiten gibt es mehrere Erklärungen. Sie reichen von der grundsätzlich falschen Struktur der Mitteilung bis hin zur dramatisch überhöhten manipulativ verzerrten Aussage der Studie. Beides sind für Journalisten unverzeihliche Todsünden, die Diagnose-Funk seit Jahren hartnäckig begeht und sich so bei Medienschaffenden selbst erfolgreich aus dem Spiel gebracht hat.
Sinnloser Tipp: Handy raus aus Hosentaschen
Plakativstes Beispiel für die Qualitätsmängel der aktuellen "Pressemitteilung" ist der irreführende Tipp für Männer, Handys nicht in der Hosentasche mit sich zu führen. Denn genau dieser seit Jahren bekannte Allerweltstipp wurde von der Studie so deutlich widerlegt, dass man sich fragt, ob die Verantwortlichen der "Pressemitteilung" das Papier überhaupt gelesen und inhaltlich verstanden haben:
Insgesamt 2368 Männer (rd. 86 Prozent der untersuchten Population), gaben an, das Telefon bei Nichtgebrauch in der Hosentasche zu tragen. Der Rest der Männer trug es entweder in der Jacke (4,6 Prozent) oder anderswo, nicht am Körper (9,7 Prozent). Das Tragen des Handys in der Hose war jedoch nicht mit veränderten Samenqualitätsparametern verbunden, verglichen mit dem Tragen des Handys weg vom Körper. Der Studie zufolge ist es also völlig egal, wo am Körper man ein Mobiltelefon mit sich führt. Diesen Befund untermauern dem Paper gemäß zwei Kohortenstudien mit Männern in Dänemark (n = 751) und in Nordamerika (n = 2349), bei denen die Forscher ebenfalls keinen konsistenten Zusammenhang zwischen dem Tragen des Mobiltelefons in der vorderen Hosentasche und der Fruchtbarkeit oder der Spermienqualität fanden. Der Allerweltstipp von Diagnose-Funk darf daher getrost in die Rubrik "Sagen & Märchen" eingefügt werden.
Was Diagnose-Funk ebenfalls verschweigt ist das bemerkenswerte Ergebnis der Schweizer Studie, dass der beobachtete Zusammenhang zwischen der Nutzung von Mobiltelefonen und der Spermienkonzentration im ersten Beobachtungszeitraum (2005 bis 2007) stärker ausgeprägt war, in den folgenden Zeiträumen (2008 bis 2011 und 2012 bis 2018) jedoch zunehmend abnahm. Die Autoren sehen dieses Muster im Einklang mit dem Übergang zu neuen Mobilfunktechniken, hauptsächlich von 2G zu 3G und 4G, und der damit verbundenen Abnahme der Sendeleistung von Mobiltelefonen. Darüber hinaus erwarten sie, dass die Zunahme der Netzabdeckung die HF-EMF-Ausgangsleistung von Mobiltelefonen in Zukunft weiter deutlich verringern wird. Das heißt: Sollte der alarmierende Befund der Schweizer Studie tatsächlich kausal mit HF-EMF-Nahfeldexposition in Verbindung stehen,
so ist der Zusammenhang eher retrospektiv von Bedeutung und verblasst mit fortschreitender Zeit.
Inkompetenz vs. Fachkompetenz
Keine der drei in der Diagnose-Funk-Mitteilung genannten Kontaktpersonen verfügt über medizinisches Fachwissen, um die Schweizer Studie kompetent bewerten zu können. Anders das Science Media Center in London. Dieses ließ die Studie von drei Medizinprofessoren vom Fach beurteilen, die zudem über Interessenkonflikte Auskunft gaben. Keiner der drei sieht die Studie auch nur halb so dramatisch wie die Laien des Stuttgarter Vereins, keiner fordert irgendwelche Minister populistisch zu Handlungen auf, alle bleiben gelassen und zwei geben sinnvollere Empfehlungen als Diagnose-Funk für Männer, die sich Kinder wünschen.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –
gesamter Thread:
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