Falsche Schlüsse (23): tödlicher Phasenprüfer (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 14.08.2011, 01:03 (vor 4846 Tagen) @ H. Lamarr

Ein Freund von mir, ich nenne ihn "Hugo", arbeitet in der Arbeitssicherheit und muss hin und wieder Vorträge vor Akademikern halten. Er macht sich dann einen Spaß daraus, die studierten Herrschaften bloß zu stellen. Was sie tun würden, um Schraubarbeiten an einer Steckdose unbeschadet zu überstehen, fragt er lauernd in den Saal und wartet bis einer ruft: Sicherung rausdrehen!

Er lobt den Rufer erst und fragt diesen anschließend wo er beerdigt sein möchte. Denn "Sicherung rausdrehen" ist kein Garant dafür, dass die Steckdose spannungsfrei ist, schon gar nicht, wenn eine unbedarfte Hilfskraft diese Aufgabe übernimmt. Es könnte nur allzu leicht die falsche Sicherung rausgedreht werden, aus Unachtsamkeit oder wegen falscher Beschriftung im Sicherungskasten.

Nach dieser Zurechtweisung fragt "Hugo" herausfordernd in den Saal: "Und - was ist der bessere Weg?

Er weiß, dass jetzt bald einer "Phasenprüfer verwenden" rufen wird. Und wieder lobt "Hugo", aber nur um sogleich abermals das Ableben des Tippgebers zu verkünden. Zeigten sich beim Sicherungstipp die meisten noch leicht gelangweilt, macht sich bei den G'studierten jetzt Ratlosigkeit breit: Was soll schon falsch daran sein, mit einem Phaseprüfer zu kontrollieren, ob "Saft" auf einer Steckdose ist? Besser geht's doch nicht!

"Hugo" wartet ab, bis sich der Tumult legt, und lässt dann lässig den Profi raushängen: Sie sind tot, sagt er, weil Sie zuvor nicht geprüft haben, ob der Phasenprüfer überhaupt funktionstüchtig ist. Ein defekter Prüfer bleibt auch dann dunkel, wenn er eigentlich leuchten müsste. Na gut, dachte ich damals, als er mir von seinem Auftritt erzählte, aber was soll schon an einem Phasenprüfer kaputt gehen, ist ja sowieso fast nichts drin - und verschob die Anekdote ins Langzeitgedächtnis.

Als ich Wochen später kürzlich eine Deckenleuchte abmontieren wollte prüfte ich - wie immer - mit dem Phasenprüfer, ob keine Spannung mehr auf den Anschlussdrähten ist. Die Glimmlampe des Phasenprüfers blieb wie erwartet dunkel, denn zuvor hatte ich natürlich das Licht am Lichtschalter ausgeschaltet. Und los geht's, dachte ich, wollte schon mit dem Schraubenzieher an den Schräubchen der Lüsterklemme drehen, als mir die Erzählung von "Hugo" durchs Hirn schoß.

Ich kletterte also von der Leiter und steckte den Phasenprüfer in die Löcher der nächstbesten Steckdose. Die Glimmlampe machte keinen Mucks, der Phasenprüfer war defekt! Vielleicht, weil ich ihn entgegen der Vorschriften doch hin und wieder als Schraubenzieher missbraucht hatte. Nie zuvor ist mir ein Phasenprüfer kaputt gegangen, dieses einzige und erste mal hätte aber schon reichen können, um mich wegen nachgewiesener 230-V-Elektrosensibilität in die ewigen Jagdgründe zu befördern.

Den Rest gab mir dann ein Ersatz-Phasenprüfer. Er zeigte auf Anhieb, dass an einem der Drähte der Deckenleuchte 230 V lagen. Verdammt! Aber warum blieb die Lampe dennoch dunkel? Ganz einfach: Verbotenerweise war der Lichtschalter so verschaltet, dass er nicht die Phase, sondern den Nullleiter trennt.

Ob ich den Stromschlag überlebt oder mir beim Sturz von der Leiter den Hals gebrochen hätte, dem einen oder anderen "lieben Mitstreiter" aus der Elektrosmog-Szene wäre vermutlich beides recht gewesen. "Hugo" aber, mein Lebensretter, weiß von der Geschichte noch gar nichts, ich werde ihn umgehend auf ein Bier einladen und sie ihm erzählen müssen.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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