Das unglaubwürdige Vermächtnis der Dr. phil. Birgit S. (Elektrosensibilität)

H. Lamarr @, München, Dienstag, 30.12.2025, 22:52 (vor 16 Stunden, 22 Minuten) @ H. Lamarr

Unter dem Titel "Eine Frau der ersten Stunde zieht sich zurück" verfasste Frau S. 2013 ein vierseitiges PDF, das ich stellenweise als eine Art Vermächtnis sehe. Angetan hat es mir die folgende Textpassage:

[...] Aus Europa kam das Aktionsprogramm zu Umwelt und Gesundheit, welches es galt in Deutschland umzusetzen. Hierzu wurden ca. 20 Bundesbeamte, 20 Forscher aus Universitäten, 20 Umweltärzte sowie ich selbst als Patientenvertreterin vier Mal jährlich nach Bonn geholt, um die Bundesregierung zu beraten. Das war für alle eine herausfordernde Aufgabe.

Doch fiel mir bald auf, dass alle diese Wissenschaftler sowie einige Umweltärzte einen Forschungsauftrag bekamen (in der Regel hoch dotiert), mit der Auflage, dass wissenschaftlich nichts zu beweisen sei, was sie auf Anweisung so durchführten. Nur ich bekam trotz Antragstellung keinen Auftrag, da ich mich zu eifrig für die Realität einsetzte. Dieser Sachverhalt holte mich zum ersten Mal aus meiner Euphorie. [...]

Alles, was recht ist, doch die rot markierte Passage kaufe ich ihr nicht ab. Denn sie ist von A bis Z unplausibel und bedient lediglich das beliebte Narrativ staatlich-wissenschaftlicher Kumpanei. Frau S. wäre nicht die erste Akademikerin, die nach allzu intensiver Beschäftigung mit Mäusen angefangen hat, weiße Mäuse zu sehen.

► Frau S. unterstellt, 20 Wissenschaftler und einige Umweltärzte hätten sich samt und sonders bereiterklärt, im staatlichen Auftrag Forschungsbetrug zu begehen.
► Woher will sie das wissen? Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass alle Betroffenen ihr dies aus freien Stücken erzählt haben, denn dadurch hätte sich jeder selbst belastet.
► Forschungsbetrug kann ein Karrierekiller sein, warum sollten also Forschungsbetrüger gleich reihenweise ausgerechnet einer allzu eifrigen Kollegin hoch dotierten Forschungsbetrug beichten?
► Frau S. behauptet nicht, dass ihr etwas von dem serienmäßig praktizierten Forschungsbetrug erzählt wurde, sondern dieser "fiel ihr bald auf". Da schau her! Mit dieser Formulierung ändert sich der Sachverhalt grundlegend. Die vermeintlich empörende Tatsache eines groß angelegten kollektiven Forschungsbetrugs in staatlichem Auftrag implodiert damit zur persönlichen Meinung der einzigen Person, die in diesem Sumpf aus Korruption und Kumpanei angeblich Rückgrat gezeigt hat. Game over.

Was ChatGPT zu der Angelegenheit zu sagen hat

Wie beurteilt ChatGPT den Sachverhalt? Teilt die KI meine Einschätzung oder bewertet sie die Geschichte anders? Hier die Stellungnahme der KI, die meine detaillierte Einschätzung (oben) nicht kannte, sondern nur in groben Zügen über meine Einwände informiert war:

Ihre Einschätzung ist fachlich gut begründet. Die konkrete Behauptung, es habe eine explizite Auflage gegeben, „wissenschaftlich nichts zu beweisen“, besteht einen Plausibilitäts- und Realitätscheck tatsächlich nicht. Man kann das nüchtern entlang mehrerer Ebenen aufdröseln.

Erstens: Förderpraxis und Verwaltungshandeln
Förderbescheide, insbesondere bei Bundesministerien oder nachgeordneten Behörden, enthalten Zielbeschreibungen, Arbeitspakete, Meilensteine und Berichtspflichten. Eine Auflage im Sinne von „es darf nichts gefunden werden“ wäre nicht nur rechtlich angreifbar, sondern auch aktenkundig. Sie würde Prüfinstanzen (Rechnungshof, parlamentarische Kontrolle) nicht überstehen. Schon aus Selbstschutz formulieren Verwaltungen so etwas nicht – weder schriftlich noch offen mündlich.

Zweitens: Wissenschaftliche Sozialpraxis
Dass rund 20 Forscher und mehrere Umweltmediziner unabhängig voneinander gegenüber einer externen Patientenvertreterin berichten, sie hätten Gelder unter der Auflage erhalten, nichts zu finden, ist extrem unwahrscheinlich.

Ein solches Eingeständnis hätte: keinen Nutzen für die Forschenden, ein erhebliches Reputationsrisiko, potenziell berufsrechtliche Konsequenzen. Das entspricht nicht dem beobachtbaren Verhalten von Wissenschaftlern, selbst in konflikthaften Forschungsfeldern.

Drittens: Kommunikationslogik
Wenn es tatsächlich informelle Erwartungshaltungen gegeben hätte (was man nicht ausschließen muss), wären diese unausgesprochen geblieben. Die typische Form ist nicht die offene Mitteilung „wir dürfen nichts finden“, sondern deutlich subtiler:

- enge Fragestellungen,
- Auswahl bestimmter Endpunkte,
- kurze Laufzeiten,
- geringe statistische Power,
- Fokus auf Replikation statt Exploration.

Diese Mechanismen werden nicht als „Auflage“ wahrgenommen, sondern als normale Förderlogik.

Viertens: Verwechslung von Ergebnisoffenheit und Ergebnisarmut
In konfliktreichen Feldern – Umweltmedizin, EMF, Chemikalien – entsteht bei Außenstehenden häufig der Eindruck, Forschung werde gezielt so gestaltet, dass „nichts herauskommt“. Das kann faktisch aber auch zutreffen, ohne dass jemand eine entsprechende Weisung erteilt hat. Methodisch schwache oder defensiv konzipierte Studien produzieren erwartungsgemäß keine belastbaren Befunde, ganz ohne böse Absicht.

Fünftens: Narrativer Mechanismus
Die Passage trägt typische Merkmale einer nachträglichen Sinnstiftung:

- persönlicher Ausschluss („nur ich bekam keinen Auftrag“),
- moralische Asymmetrie („ich setzte mich zu eifrig für die Realität ein“),
- pauschale Zuschreibung an „die Wissenschaftler“.

Das ist erzählerisch konsistent, aber nicht evidenzbasiert. Die behauptete Auflage fungiert als erklärendes Narrativ für eine als ungerecht erlebte Situation.

Zusammengefasst
Ihre Skepsis ist vollauf berechtigt. Die Behauptung einer expliziten Auflage, nichts finden zu dürfen, ist organisatorisch, rechtlich, sozialpsychologisch und kommunikationslogisch hochgradig unplausibel. Was plausibel ist, sind strukturelle Steuerungseffekte in der Forschungsförderung. Was nicht plausibel ist, ist deren Zuspitzung zu einer offen kommunizierten „Nicht-Findungs-Auflage“. Genau diese Differenz wird in dem Text verwischt.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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