Faktencheck: Waldmann-Selsam endlich anerkannt? (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Samstag, 01.03.2025, 22:12 (vor 1 Tag, 16 Stunden, 38 Min.) @ H. Lamarr

In seinem derzeit jüngsten Märchenfilm für Erwachsene (Das digitale Dilemma) behauptet Klaus Scheidsteger an Stunde 1:05:

[...] Dass Mobilfunkstrahlung für Baumschäden verantwortlich sein könnte, hat Frau Dr. Waldmann-Selsam so beeindruckend kontinuierlich dokumentiert, dass ihre Arbeit mittlerweile international in Fachkreisen diskutiert wird. [...]

Ist das wirklich so? Wir haben nachgeforscht.

Mit Waldmann-Selsams "Arbeit" kann Scheidsteger kaum die dilettantischen Fotosammlungen der Ärztin meinen. Aller Wahrscheinlichkeit meint er ihre erste und einzige Arbeit mit wissenschaftlichem Anspruch: Radiofrequency radiation injures trees around mobile phone base stations.

► Erste kritische Kommentare zu dem Paper gab es im IZgMF-Forum schon kurz nach der Online-Publikation im August 2016.

► 2023 wurde die Studie auch auf wissenschaftlichem Parkett abgewertet:

[...] In einer Beobachtungsstudie (Waldmann-Selsam et al. 2016) wurde eine Schädigung des Kronendachs auf der Seite beschrieben, die Mobilfunk-Basisstationen zugewandt ist. Aufgrund des selektiven Ansatzes (d. h. nicht alle Bäume wurden zufällig ausgewählt) können jedoch allein auf der Grundlage dieser Beobachtungen keine wissenschaftlichen Schlussfolgerungen gezogen werden. [...]

► Zwei große Datenbanken für wissenschaftliche Literatur weisen der Baumstudie von Waldmann-Selsam heute, nach ca. acht Jahren, jedoch häufige Zitationen zu:

Google Scholar: zitiert von 94
Semantic Scholar: zitiert von 52

Semantic Scholar ist bei der Quellenauswahl strenger als Google Scholar und orientiert sich mehr an peer-reviewten Publikationen – daher der niedrigere Wert.

► Was hält die KI ChatGPT von der Baumstudie? Die Antwort wird Waldmann-Selsam gefallen:

Der Artikel "Radiofrequency radiation injures trees around mobile phone base stations" wurde im Jahr 2016 veröffentlicht und hat seitdem eine bemerkenswerte Resonanz in der wissenschaftlichen Gemeinschaft erfahren. Laut Semantic Scholar wurde der Artikel 52-mal zitiert.

Diese Zitationszahl deutet darauf hin, dass der Artikel in der Forschungsgemeinschaft Beachtung gefunden hat und als Referenz für weitere Studien dient. Zusätzlich wurde die Studie in verschiedenen wissenschaftlichen Datenbanken und Plattformen gelistet, darunter PubMed und ResearchGate, was ihre Sichtbarkeit und Zugänglichkeit erhöht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Artikel durch seine Zitationshäufigkeit und Präsenz in renommierten wissenschaftlichen Datenbanken eine signifikante Wirkung in der wissenschaftlichen Gemeinschaft erzielt hat.

► Ich widerspreche der Wertung durch die KI und wende ein, die Wertung könne nicht zutreffen, denn wegen des selektiven Ansatzes der Studie, nur geschädigte Bäume zu dokumentieren und nicht z.B. 1000 zufällig ausgewählte Bäume, habe die Studie keinen wissenschaftlichen Wert. ChatGPT rudert zurück und erwidert:

Guter Punkt! Wenn eine Studie nur geschädigte Bäume dokumentiert und nicht eine zufällige oder repräsentative Stichprobe verwendet, leidet die wissenschaftliche Aussagekraft erheblich. Das bedeutet, dass keine Kausalität zwischen Mobilfunkstrahlung und Baumschäden bewiesen werden kann – es könnte einfach sein, dass andere Umweltfaktoren eine Rolle spielen.

Trotzdem kann ein Artikel auch dann zitiert werden, wenn er methodische Schwächen hat – etwa als Negativbeispiel oder zur Diskussion in anderen Studien. Manchmal werden fehlerhafte oder umstrittene Arbeiten besonders häufig erwähnt, weil sie Gegenargumente hervorrufen.

► Ich habe mir den Spaß gegönnt, einmal zu prüfen, wie viele der 52 von Semantic Scholar gefundenen Zitationen mutmaßlich Gefälligkeiten sind, weil die Autoren der zitierenden Studien bekannte Mobilfunkkritiker sind (Balmori, Hardell, Lai ...). Meiner Zählung zufolge trifft mein Einwand auf mindestens 13 Studien zu. Bleiben 39 übrig. Deren Autoren sind meiner Wahrnehmung nach mehrheitlich nicht der westlichen Welt zuzuordnen, sondern der östlichen Welt (Kleinasien, Arabien, Indien ...). Damit will ich erstrangig keine pauschale Abwertung zum Ausdruck bringen, sondern nur meine Verwunderung über die Tatsache an sich.

► Wie sieht nun so ein Zitat zugunsten der Baumstudie von Waldmann-Selsam aus? Hier ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel (Original Research Paper; International Journal of Scientific Research; Volume - 10 | Issue - 06 | June - 2021):

In a study of tree damage in Germany, it was discovered that cell phone base stations damaged the sides of 60 trees facing the CPBS. Power densities varied from 6 to 17,060 μW/m²; the median peak hold power density from the MCPBS on the damaged side was 995 μW/m² and on the undamaged side was 125 μW/m². A power density of 995 μW/m² is obviously far less than the FCC safe threshold of 6,000,000 to 10,000,000 μW/m² average and equal to a peak extreme anomaly of 1,000 μW/m² specified by the Building Biology Institute.

The authors quote from M. Repacholi, head of the International EMF Project of the WHO (p. 567), who said in part: “Given that any adverse impact on the environment will ultimately affect human life, it is difficult to understand why more work has not been done ... research should focus on the long-term, low level EMF exposure for which almost no information is available.” (p. 567) [53]

Die Postille ist mir völlig fremd. Sie erkennt den kapitalen Schwachpunkt der Baumstudie nicht und liebäugelt zu allem Überfluss auch noch mit den extremen Anomalien der Baubiologie. Heißt im Klartext: Auf dieses Zitat kann Waldmann-Selsam nicht stolz sein, die Postille ist aus meiner Sicht auf dem Qualitätsniveau eines Diagnose-Funk-"Brennpunkts" eines "Elektrosmog-Reports" oder eines Gigaherz-Beitrags zu verorten. Und dass Semantic Scholar einem dieses Zitat anbietet, steht im Widerspruch zu meiner Pauschalisierung, diese Datenbank filtere strenger als Google Scholar :no:.

Fazit

Die wissenschaftliche Relevanz der Baumstudie von Waldmann-Selsam ist umstritten. Kritiker bemängeln vor allem den selektiven Ansatz, der keine belastbaren wissenschaftlichen Schlussfolgerungen zulässt. Zwar wurde die Studie häufig zitiert, doch viele der Zitationen stammen aus Kreisen, die Mobilfunk kritisch gegenüberstehen, oder aus Publikationen fragwürdiger Qualität. Trotz der Sichtbarkeit in wissenschaftlichen Datenbanken kann die Studie aufgrund methodischer Schwächen nicht als Beweis für eine Kausalität zwischen Mobilfunkstrahlung und Baumschäden gewertet werden.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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