Tetra-Klagen in England: Geschichte einer Zeitungsente (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Samstag, 18.06.2011, 18:17 (vor 4926 Tagen)

Am 13. April 2011 war es soweit: Abends tritt im Bürgerhaus zu Burgkirchen/Alz Dr. Klaus Buchner auf. In einer Aufzeichnung der Veranstaltung (siehe unten) wird er als Bundesvorsitzender der ödp angekündigt, diesen Posten aber hat Klaus Buchner bereits seit dem 13. November 2010 nicht mehr. Doch es kommt noch viel besser, nämlich ein Beleg dafür, dass Mobilfunkkritik es selbst dann mühelos auf Großprojektionsflächen schafft, wenn sie auf unwahren irreführenden Behauptungen beruht. Es ist die tödliche Krankheit der Mobilfunkkritik: Alarmieren um jeden Preis, gerne auch auf Kosten der Wahrheit!

Hier also nun der neueste Fall dieser Krankheit ...

Bei Minute 1:16 des nur 2:27 Minuten dauernden Videos ist eine Projektion zu sehen auf der es heißt:

"Im Januar 2010 haben 176 englische Polizisten Klage erhoben (Gesundheitsschäden bis zur Arbeitsunfähigkeit)"

Soso. Mein Bauch schlägt bei dieser Nachricht Alarm.

Eine Quelle für diese Behauptung ist auf der Projektion nicht zu erkennen, die Suche im Internet (tetra england klage 176) führt jedoch schnell zum Ziel. Es sind bevorzugt Webseiten von Sendemastengegnern, die die Story der 176 englischen Polizisten mit geringfügigen Abweichungen verbreiten.

Die Quelle all dieser deutschsprachigen Meldungen ist ein Bericht in der britischen Qualitätszeitung "The Telegraph" vom 1. Januar 2010. Und gewohnt fleißig hat Diagnose-Funk eine deutsche Übersetzung dieses Berichts als PDF im Programm.

Entscheidend ist die folgende Passage im Original ...

The local branch of the Police Federation has logged 176 individual complaints, and now senior officials at the police authority are seeking legal advice on how to deal with them.

... die von Diagnose-Funk fehlerhaft übersetzt wurde:

Die örtliche Zweigstelle des Polizistenverbandes hat 176 einzelne Klagen aufgezeichnet und nun haben höhere Beamte bei der Polizeibehörde um rechtliche Auskunft nachgesucht, wie sie damit umgehen sollen.

Fehlerhaft deshalb, weil der Verband der Polizisten nicht 176 einzelne Klagen (im Sinne von Klagen vor Gericht) erfasst hat, sondern nur 176 Beschwerden von Polizisten wegen allerlei angeblich von den Tetra-Funkgeräten verursachten Befindlichkeitsstörungen. Vorsicht: 176 Beschwerden müssen nicht zwangsläufig von 176 Polizisten kommen, wie es bei Buchner heißt, es können auch nur 88 Polizisten sein, etwa wenn jeder zwei Beschwerden bei seinem Vorgesetzten eingereicht hat.

Diagnose-Funk hat sich mMn seit längerem darauf spezialisiert, nicht grundfalsch über etwas zu berichten, sondern derart missverständlich, dass der Fehler erst im Kopf des Lesers passiert. Dies ist für die Verfasser der irreführenden Meldungen völlig risikolos, sie können stets die Hände in Unschuld waschen.

Also zur Klarstellung: Es gibt in England weder 176 (Gerichts-)Klagen gegen Terta noch - wie Buchner es darstellt - eine Sammelklage von 176 Polizisten. Richtig ist: Es liegen dem Verband der englischen Polizisten 176 Beschwerden vor und die Verantwortlichen überlegten im Januar 2010 noch, was sie mit diesen Beschwerden nun anfangen sollten.

Website der "Police Federation" weiß nichts von einer Klage

Auf der Website der Police Federation findet sich heute, gut 1 Jahr später, keinerlei Hinweis auf eine Gerichtsklage wegen Tetra. Tetra heißt auf der Insel "Airwave", eine diesbezügliche Suche bei dem Polizistenverband führt zu dieser Liste mit 31 Treffern, deren jüngster von 2009 ist. In der Agenda der Jahresversammlung 2011 des Verbands wird Tetra/Airwave im Mai 2011 nicht einmal mehr erwähnt. Ebenso verhält es sich mit sämtlichen Reden anlässlich der Jahresversammlung 2010: von einer Klage gegen Airwave/Tetra ist kein Ton zu hören! Dennoch behauptet Klaus Buchner in seinem Vortrag die Existenz einer solchen Klage.

Angst vor der Neuen Funktechnik

Die Telegraph-Meldung vom Januar 2010 hatten wir hier schon einmal kritisch betrachtet. Dabei stellte sich heraus, dass die 176 Beschwerden keineswegs im Laufe von neun Jahren eintrafen, sondern das Gros davon schon kurz nach Einführung der neuen Funktechnik bei den Chefs auf dem Tisch lag. Danach kehrte Ruhe ein. Dies erklärt, wieso sich auf der Website der Police Federation seit Jahren nichts mehr in Sachen Tetra/Airwave tut. Das Thema ist dort längst abgefrühstückt. Nur hierzulande wird wegen der Tetra-Einführung die "olle Karmelle" aus England immer wieder neu ausgegraben, und sei es nur dazu, um einen Vortrag über angebliche Tetra-Gefahren mit dramatischen Begebenheiten aus dem Ausland zu füllen.

Dass altgediente Sendemastengegner wie Klaus Buchner dem Hang zum faktenfernen Dramatisieren weiterhin nachgeben, er müsste es längst besser wissen, finde ich unverzeihlich. Und, um es einmal mit allem Nachdruck zu sagen: Eine politische Partei, die 2011 noch immer glaubt, mit Panikmache wegen Funkwellen Wählerstimmen zu ergattern, ist für mich wegen Realitätsferne schlicht nicht (mehr) wählbar.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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