SAR-Messungen: MWF wehrt sich gegen 0 mm Messabstand (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Mittwoch, 20.12.2023, 22:23 (vor 493 Tagen)

Auf Betreiben Frankreichs wurde 2016 bei SAR-Messungen am Körper in der EU der Messabstand von 25.mm auf 5.mm reduziert. Aus Sicht von Interessengruppen wie akademischen Mobilfunkkritikern ist auch das noch zu viel, sie fordern 0 mm Messabstand. Die Mobilfunkindustrie in Gestalt des Mobile & Wireless Forum (MWF) hält dies für unangemessen realitätsfern.

Im Dezember 2023 reagierte die Interessenvertretung der Mobilfunker auf die Forderung nach einer weiteren Verschärfung der Vorschriften für SAR-Messungen am Körper mit einer Stellungnahme. Die dort vorgebrachten Argumente sind teils überraschend. Ins Deutsche übersetzt lautet die Stellungnahme:

Der SAR-Wert [1] ist ein zeitlich gemitteltes Maß für den Betrag der HF-Leistung, die bei der Verwendung eines mobilen Geräts vom Körpergewebe absorbiert wird. Die SAR-Grenzwerte in vielen Ländern basieren auf Richtlinien der Internationalen Kommission zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung (Icnirp) [2] oder auf Normen des Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE) [3], die beide erhebliche Reduktionsfaktoren in die Grenzwerte einbeziehen, um Unwägbarkeiten zu berücksichtigen und eine zusätzliche Sicherheitsmarge zu schaffen. Um die Einhaltung dieser Grenzwerte nachzuweisen, werden Funk emittierende Geräte unter Laborbedingungen nach internationalen Messstandards [4] getestet. Genau vorgeschrieben sind die Testpositionen und alle relevanten Betriebseigenschaften des Geräts wie die Prüfung mit maximal möglicher Sendeleistung.

Infolge der konservativen Messvorschriften sind die für jedes Gerät angegebenen SAR-Werte jedoch deutlich zu hoch im Vergleich zu tatsächlichen Expositionswerten. Denn in der Realität arbeiten die Geräte mit deutlich geringerer Sendeleistung und passen diese im Interesse einer langen Akkulaufzeit ständig an, um Funkverbindungen mit minimalem Energieeinsatz aufrecht zu erhalten. Außerdem verwenden viele moderne Geräte Näherungssensoren, die die maximale Sendeleistung begrenzen, sobald sie erkennen, dass sich das Gerät in der Nähe des Körpers des Benutzers befindet. Mehrere Studien über Mobiltelefone im alltäglichen Gebrauch haben gezeigt, dass Telefone in aller Regel nur mit einem sehr kleinen Bruchteil ihrer maximalen Sendeleistung betrieben werden [5,6,7]. Dennoch haben einige Interessengruppen SAR-Messungen am Körper mit einem Abstand von null gefordert. Diese Forderung beruht auf der höchst unrealistischen Annahme, ein Gerät könnte unter schlechtesten Empfangsbedingungen unbegrenzt mit maximaler Leistung senden, währenddessen es fest an den Körper des Benutzers gepresst wird. Dieses Szenario verringert den heute geltenden geringen Abstand, der das Vorhandensein von Kleidung, Telefonabdeckungen usw. widerspiegelt, und wäre daher eine zusätzliche konservative Verschärfung der Messvorschriften, die den realen Expositionsbedingungen nicht Rechnung trägt.

Es ist enttäuschend, dass die dokumentierte, realistische Sendeleistung der Geräte neben anderen Punkten nicht als Teil der vernünftigerweise vorhersehbaren Nutzungsbedingungen berücksichtigt wird, wie es die Funkanlagenrichtlinie der Europäischen Union vorschreibt [RED, EU-Richtlinie 2014/53/EU; Anm. Postingautor]. Die Industrie beteiligt sich aktiv am internationalen Normungsprozess und hat viel zur Forschung beigetragen, um Normen in verschiedenen Bereichen zu initiieren, zu entwickeln und zu verbessern. Wir sind uns auch bewusst, dass wir nur eine Stimme sind und dass Normen auf der Grundlage der Ansichten vieler entwickelt werden, die einen Konsens anstreben. Daher werden wir uns zwar weiterhin dafür einsetzen, dass SAR-Messungen unter allen vernünftigerweise vorhersehbaren Bedingungen stattfinden, aber wir werden uns auch an die verbindlichen Protokolle halten, die sich aus dem Konsens und dem wissenschaftlich fundierten internationalen Normierungsprozess ergeben.

[1] http://www.sartick.com
[2] https://www.icnirp.org/cms/upload/publications/ICNIRPrfgdl2020.pdf
[3] https://ieeexplore.ieee.org/document/8859679
[4] Die Prüfung der SAR-Konformität von Mobiltelefonen erfolgt anhand des in IEEE/IEC 62209-1528:2020 beschriebenen standardisierten Protokolls, das Teil der Sicherheitsnormen ist, die alle paar Jahre überprüft werden, um zu gewährleisten, dass sie angesichts neuer technischer Entwicklungen relevant bleiben. Die Internationale Elektrotechnische Kommission (IEC) ist die weltweit führende Organisation, die internationale Normen für alle elektrischen, elektronischen und verwandten Techniken entwickelt und veröffentlicht. Die IEC-Normen werden von ausgewiesenen Experten nationaler Ausschüsse entwickelt, die aus Forschungslabors, Regierungsbehörden, Hochschulen, Industrie, Handel und Verbrauchergruppen stammen. IEEE ist die weltweit größte technische Fachorganisation, die sich für den Fortschritt der Technologie zum Wohle der Menschheit einsetzt. Die genannte Doppellogo-Norm wurde von Mitgliedern der IEEE und der IEC entwickelt.
[5] P. Joshi, D. Colombi, B. Thors, L. E. Larsson and C. Törnevik, "Output Power Levels of 4G User Equipment and Implications on Realistic RF EMF Exposure Assessments," in IEEE Access, vol. 5, no., pp. 4545-4550, 2017. doi: 10.1109/ACCESS.2017.2682422
[6] Persson et al., Output power distributions of terminals in a 3G mobile communication network. Bioelectromagnetics 33: 320 - 325, 2012
[7] Dragan Jovanovic et al, Mobile telephones: A comparison of radiated power between 3G VoIP calls and 3G VoCS calls, Journal of Exposure Science and Environmental Epidemiology 25: 80–83, 2015

Hintergrund
SAR-Sensoren: Automatische SAR-Reduzierung bei Körperkontakt

Kommentar: Die Darstellung des MWF, es gäbe viele moderne Geräte mit Näherungssensoren (SAR-Sensor), die die maximale Sendeleistung begrenzten, kam mir spanisch vor. Deshalb befragte ich die KI der Suchmaschine Bing und bekam die Antwort: "Es scheint, dass einige Smartphones, die in die EU und Nordamerika exportiert werden, einen zusätzlichen SAR-Sensor haben könnten. Allerdings konnte ich keine spezifischen Modelle finden, die explizit einen integrierten SAR-Sensor erwähnen. Es wäre am besten, sich direkt an den Hersteller zu wenden oder die technischen Daten des spezifischen Modells zu überprüfen, um diese Information zu bestätigen. Bitte beachten Sie, dass die Verfügbarkeit von SAR-Sensoren von der Region und den spezifischen Vorschriften abhängen kann." Smartphones mit Näherungssensor fand die KI hingegen viele, allerdings beschrieb sie deren Funktion so wie oben unter dem Hintergrundlink (Abschalten des Bildschirms bei Telefonaten am Ohr). Mutmaßlich ist es so, dass Smartphones (von Ausreißern abgesehen) gegenwärtig keinen SAR-Sensor/Näherungssensor benötigen, um die SAR-Grenzwerte einzuhalten. Das könnte sich ändern, wenn der Messabstand 0 mm zum Körper tatsächlich kommt. Doch darauf sind die Hersteller von Smartphones offensichtlich vorbereitet und ihre Marketingabteilungen werden aus dem Einbau der Sensoren wahrscheinlich kein Geheimnis machen, sondern dies plakativ für Modellwerbung nutzen.

Nachtrag vom 09.01.2024: Ein Indiz, dass die Darstellung des MWF doch stimmt, gibt es hier.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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