Das 200-Volt-pro-Meter-Märchen (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Dienstag, 02.06.2020, 11:43 (vor 1554 Tagen) @ H. Lamarr

Moderator: [...] Da gibt es ja sogenannte Empfehlungen und Richtlinien der EU über die Voltzahlen, die über die Keulen gebündelt ankommen, und da habe ich mit Erschrecken bei meinen Recherchen festgestellt, dass diese dann plötzlich von sechs auf bis zu 120…200 Volt pro Meter hochgehen. Was sind das für Folgen?

Im Vorübergehen verbreitet der Moderator mit obigen Zitat ein angstschürendes Märchen, indem er behauptet, bei 5G würden die Grenzwerte von 6 V/m auf bis zu 200 V/m ansteigen. Die Desinformation wird einem so beiläufig untergeschoben, dass man sie kaum bemerkt. Die Werteangaben des Moderators sind jedoch allesamt falsch, der Grenzwert für 5G bleibt in Deutschland auf dem seit 1998 geltenden Niveau:

Private Exposition: max. 61 V/m (10 W/m²)
Berufliche Exposition: max. 137,3 V/m (50 W/m²)

Den Grenzwert 6 V/m gibt es in Deutschland nicht, der Moderator verwechselt hier Deutschland mit der Schweiz, wo 6 V/m als Vorsorgewert (Anlagegrenzwert) für Orte mit empfindlicher Nutzung gelten (z.B. Schlafräume).

Wie aber konnte der Moderator bei seiner Recherche einen Maximalwert von 200 V/m überhaupt finden?

So etwas ist möglich, wenn man wahllos recherchiert und nicht zwischen kompetenten und inkompetenten Quellen unterscheidet, sondern schießt, was einem vor die Flinte läuft.

Für die 200 V/m, die übrigens allein für berufliche Exposition genannt wurden, was der Moderator verschweigt, gibt es nur einen einzige Primärquelle. Diese ist der inkompetente Schweizer Ex-Elektriker Hans-U. Jakob, der sich den Wert auf seiner Website gigaherz.ch aus ursprünglich korrekten Informationen falsch zusammenbastelte. Einige wenige fachlich überforderte Sekundärquellen griffen die Falschmeldung auf und verbreiteten sie weiter, darunter der Anti-Mobilfunk-Verein Diagnose-Funk und das Zweite Deutsche Fernsehen ZDF.

Die ganze Geschichte dieser Falschmeldung und die letztlich erfolgreichen Bemühungen, das ZDF vom weiteren Verbreiten der Desinformation abzubringen, lässt sich hier nachlesen: ZDF (2019): Das 90-V/m-Märchen. Dort ist von 90 V/m die Rede, da Jakob auch den wichtigeren Grenzwert für die Exposition von Privatpersonen von max. 61 V/m (richtig) auf max. 90 V/m (falsch) hoch setze.

Wem die komplette Geschichte der Falschmeldung zu lang ist, der kann sich hier die kürzere Herleitung schnappen, warum die Grenzwertphantasien des Schweizers einer Fehldeutung korrekter Informationen entspringen.

Was von gigaherz.ch zu halten ist kann man gut daran erkennen, dass dieser Verein entgegen besseren Wissens seine Falschmeldung noch heute verbreitet.

Doch warum darf berufliche Exposition überhaupt merklich höher sein als private? Sind Menschen vor dem Gesetz nicht alle gleich? Für die Trennung in Beruf und Privatleben gibt es folgende Argumente:

► Bei beruflicher Exposition sind die Expositionsbedingungen der Mitarbeiter (z.B. beim Arbeiten an einer Maschine) gut bekannt und kalkulierbar.
► Berufliche Exposition wirkt nur befristet während der Arbeitszeit ein.
► Berufliche Exposition muss Kinder, Alte und Kranke nicht vorsorglich berücksichtigen.
► Berufliche Exposition wirkt nicht im Schlaf ein (vom Büroschlaf einmal abgesehen :-)).

Hintergrund
Grenzwerte in Deutschland (berufliche Exposition)

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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