Mobilfunkhaftung: Antiquierte Quellenangabe BGHZ 81, 199 (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Mittwoch, 29.03.2023, 21:21 (vor 538 Tagen) @ H. Lamarr

Mit seinem Beitrag über das Urteil des Landgerichts Münster versetzte der Stuttgarter Verein Diagnose-Funk Mobilfunkgegner in aller Welt zwar nicht in Extase, aber doch in Entzücken. Anscheinend bemerkte keiner der Me-too-Abnehmer, was für eine hohle Nuss er da ergattert hat. Um dies zu erkennen, hätte schon die Prüfung einer Behauptung genügt, die sich auf keinen geringeren als den Bundesgerichtshof in Karlsruhe beruft (BGHZ 81, 199). Doch die vermeintlich simple Suche nach dem BGH-Urteil erwies sich schwieriger als gedacht.

Liest man sich die Warnung durch, jagen einem furchteinflößende Textpassagen der Reihe nach Schauer über den Rücken (Kostproben):

Grundstücksvermieter haften uneingeschränkt neben den Mobilfunkanlagenbetreibern

Das Haftungsrisiko für Vermieter ist nicht nur theoretisch

Auch wenn von den Anlagenbetreibern immer wieder damit argumentiert wird, dass sie die Grenzwerte der 26. BImSchV beim Anlagenbetrieb einhalten, ist damit eine Haftung von ihnen bzw. den Eigentümern keineswegs ausgeschlossen. Der Bundesgerichtshof hat vielmehr mehrfach festgestellt, dass sich Produzenten bzw. Anlagenbetreiber jedenfalls dann nicht mit dem Verweis auf die Einhaltung offizieller Grenzwerte entlasten können, wenn ihnen weitergehende Schädigungswirkungen u.ä. bekannt sind bzw. bekannt sein mussten[6].

Potz, Blitz!

Die knallrot markierte Textpassage hat es ja wirklich in sich! Auf den fraglichen Sachverhalt bezogen besagt sie sogar für Laien offensichtlich, Mobilfunknetzbetreiber können sich zur Abwehr von Schadenersatzansprüchen laut BGH nicht auf die Einhaltung der Grenzwerte gemäß 26. BImSchV berufen, wenn ihnen nachzuweisen ist, dass sie von gesundheitsschädlichen Folgen des Mobilfunks wussten oder hätten wissen müssen.

Und ich dachte, die Einhaltung der Grenzwerte gemäß 26. BImSchV wäre für Mobilfunknetzbetreiber ein Persilschein, um Schadenersatzansprüchen aller Art gelassen entgegensehen zu können.

Aber: Diagnose-Funk behauptet viel, wenn der Tag lang ist, dieser Quelle traue ich vieler schlechter Erfahrungen wegen keinen Zentimeter weit über den Weg. Schauen wir uns also die von dem Verein genannte Quelle [6] an, ob dieser zu trauen ist:

[6] z.B. BGHZ 81, 199, ausführlich dazu auch: Krahn-Zembol, „Deutschland: Produkthaftungsrisiken bei EMF-emittierenden Anlagen und Geräten“, Produkthaftpflicht international 6/93, Seite 204 bis 210.

Ein Link fehlt, schade. "BGHZ 81, 199" sieht aber immerhin stark nach dem Aktenzeichen eines BGH-Urteils aus. Also gut, googeln wir danach eben selbst.

Meine Suche am 28. März 2023 führte zu 17 Treffern. Angeführt wird die Trefferliste nicht vom BGH, sondern von Diagnose-Funk. Seltsam. Doch was dann kommt ist verstörend: Die 16 weiteren Treffer führen ausnahmslos zu ausländischen Websites, die allesamt das gleiche Sniplet zeigen! Offensichtlich wurde der Diagnose-Funk-Beitrag an Gesinnungsfreunde in aller Welt verteilt, 16 haben zugegriffen und die Story mit Hilfe von Google-Translator in ihrer Landessprache kolportiert. Die "elektrosensible" Schwedin Mona Nilsson (Strålskyddsstiftelsen) spielte bei der Verteilung eine tragende Rolle. Auffällig auch, die Trefferliste zeigt keine einzige seriöse Quelle, z.B. eines der Justizportale, welche die Leitsätze wichtiger Urteile verbreiten. Ganz zu Schweigen von einem Treffer, der zum BGH führt.

Das ist ein unerwarteter Fehlschlag. Die Suche führte mich nicht wie erwartet zum BGH, sondern tief in den Sumpf der gut vernetzten internationalen Anti-Mobilfunk-Szene.

Was nun?

Quelle [6] nennt noch die Zeitschrift "Produkthaftpflicht international", Anwalt Krahn-Zembol soll dort (Ausgabe 6/93) irgendetwas über das BGH-Urteil geschrieben haben. Ist vielleicht diese Spur ergiebiger?

Nein, diese Spur führt buchstäblich ins Nichts. Denn die Zeitschrift "Produkthaftpflicht international", herausgegeben von der "Kölnische Rückversicherungs-Gesellschaft AG", erschien zwar ab 1982, doch 1993 wurde sie eingestellt. Was immer auch Krahn-Zembol in dem Blatt über das BGH-Urteil geschrieben haben mag, es lagert bestenfalls noch im Keller einer Bibliothek, Tante Google jedenfalls weiß von Krahn-Zembols Werk auch nur das, was Diagnose-Funk unter Quelle [6] ausgeplaudert hat.

Warum nur serviert uns der Stuttgarter Verein eine Quelle, die so trocken ist wie das Tal des Todes in Kalifornien?

Stopp, Moment mal!

Wenn Krahn-Zembol schon 1993 das verschollene BGH-Urteil "BGHZ 81, 199" zum Thema hatte, dann muss das Urteil noch älter sein. Auf der Website des BGH konnte ich auf die Schnelle nichts finden, was einem die Systematik der Aktenzeichen von BGH-Urteilen näher bringt. Und in Karlsruhe anrufen schied wegen der Uhrzeit aus. Aber ChatGPT musste noch wach sein. Also befragte ich dieses Orakel, wohl wissend, dass seine Antwort nur mit Vorbehalt zu verwerten ist.

Frage: Wenn in Deutschland ein BGH-Urteil die Nummer BGHZ 81/199 hat, bedeutet dann 81 das Jahr 1981?

ChatGPT: Nein, die Nummer "BGHZ 81/199" bedeutet nicht, dass das Urteil im Jahr 1981 gefällt wurde. Die Abkürzung "BGHZ" steht für "Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen" und bezieht sich auf eine bestimmte Reihe von Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH).

Die Nummer "81" bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Nummerierung innerhalb dieser Reihe von Entscheidungen und gibt an, dass es sich um die 81. Entscheidung in dieser Reihe handelt. Die Nummer "199" steht für das Jahr, in dem das Urteil gefällt wurde, nämlich 1992. Die vollständige Nummer "BGHZ 81/199" gibt also an, dass es sich um die 81. Entscheidung in der Reihe der Entscheidungen des BGH in Zivilsachen handelt und dass das Urteil im Jahr 1992 gefällt wurde.

Wie ChatGPT von 199 auf 1992 schließen kann ist mir zwar schleierhaft, aber es passt, denn 1992 ist älter als 1993. Und damit ist auch klar, warum ich das Urteil auf der Website des BGH nicht aufstöbern konnte, online sind dort erst Urteile ab dem Jahr 2000 einzusehen. Wer auf ältere Urteile einen Blick werfen möchte, muss beim BGH einen Satz Kopien bestellen und bezahlen.

Und was sagt uns das jetzt?

Mitte 1992 begann in Deutschland mit GSM 900 der Regelbetrieb des 2G-Mobilfunks, besagtes Urteil des BGH kann daher in keinen Zusammenhang dazu stehen. Erst recht nicht mit der 26. BImSchV. Denn diese Verordnung trat erst zum 1. Januar 1997 in Kraft und gab Deutschland erstmals eine Regelung zum Schutz vor elektromagnetischen Feldern, die verbindliche Vorgaben insbesondere für den Gesundheitsschutz machte. Um beurteilen zu können, ob das 30 Jahre alte BGH-Urteil heute überhaupt noch irgendeine Relevanz hat, ist Einsichtnahme vonnöten. Der Aufwand dafür ist mir die Sache jedoch nicht wert.

Krahn-Zembol kennt anscheinend den Wortlaut des Urteils. Da er sich als Alarmist gibt, der Sachverhalte verdreht (siehe Startposting), traue ich ihm jedoch nicht. Auch deshalb nicht, weil er in dem fragwürdigen Szene-Blatt UMG publiziert. Und zuletzt deshalb nicht, weil sich im www Belege dafür finden, dass er mit seiner Rechtsauffassung zuweilen durchaus auf die Gegenfahrbahn gerät. So reichte er 2001 Verfassungsbeschwerde ein, um klären zu lassen, ob der Verordnungsgeber die geltenden Immissionsgrenzwerte zum Schutz vor hypothetischen Gefährdungen verschärfen muss und unter welchen Voraussetzungen die Gerichte verpflichtet sind, Beweis über die Behauptung zu erheben, die geltenden Grenzwerte seien angesichts neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Gefährlichkeit von Immissionen überholt. Das Bundesverfassungsgericht ließ seine Beschwerde begründet erst gar nicht zur Verhandlung zu. Krahn-Zembol hatte seinerzeit eine Pechsträhne, denn 2002 reichte er als Rechtsvertreter eines überzeugten Elektrosensiblen Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein, der diese 2007 jedoch einstimmig für unzulässig erklärte. Um bis zum EGMR zu kommen, musste der streitbare Anwalt mit dem Fall zuerst vor einem Verwaltungsgericht den Kürzeren ziehen, dann vor einem Oberverwaltungsgericht scheitern und zuletzt vor dem Bundesverfassungsgericht.

Hintergrund
Bürgerliches Gesetzbuch / § 823 Schadensersatzpflicht
Krahn-Zembols Fußabdruck im IZgMF-Forum
Schweiz: Wer trägt das Risiko der Gesundheitsschäden durch die 5G-Technologie?

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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