EMF-freie Hotels: Falsche Ausgewogenheit in Medienberichten (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Donnerstag, 20.10.2022, 18:20 (vor 619 Tagen) @ H. Lamarr

Bis heute wird die gezielte Wahrnehmungsverzerrung besonders gerne dann praktiziert, wenn eine der obligatorischen "Informationsveranstaltungen" stattfindet. Das Kräfteverhältnis der wissenschaftlichen Meinung über das Risiko EMF wird dann nicht selten auf den Kopf gestellt und ein kompetenter Vertreter der Mehrheitsmeinung sieht sich zwei oder drei inkompetenten Vertretern der Minderheitenmeinung gegenüber. Hier im Forum reden wir dann von "Kompetenzgefälle", da die Interessen der Minderheit von selbsternannten Experten (fachliche Laien) vertreten wird.

Typisch für die Schieflage der Mobilfunkdebatte sind auch angeblich redaktionelle Inhalte, die tatsächlich werblichen Zwecken dienen. Früher treffend Schleichwerbung genannt, werden solche Beiträge heute eher unter dem abstrakten Begriff "Advertorial" gehandelt. Ein praktisches Beispiel zum Üben ist der Beitrag Elektrosmog: Strahlung im Fokus, erschienen auf der Website tophotel.de.

In dem Beitrag geht es darum, das Geschäftsmodell "strahlungsfreies oder -armes Hotel" nicht ins Gerede, sondern ins Gespräch zu bringen. Verkaufsförderung also. Dazu wird zunächst sehr oberflächlich ein angebliches Wirkmodell gestreift, warum hochfrequente elektromagnetische Felder überhaupt schädlich sein sollen. Anschließend fährt die Autorin drei "Experten" auf. Dem Bundesamt für Strahlenschutz teilt sie belegfrei die unrühmliche Rolle des Entwarners zu, die Vereine Bürgerwelle Deutschland und Diagnose-Funk bekommen die glänzende Rolle der besorgten Mahner und Warner. Das Kompetenzgefälle zwischen den Fachleuten des BfS und den Laien der beiden Vereine juckt die Autorin in keiner Weise, sie verkauft ihren Lesern die krasse Schieflage bei der Fachkompetenz als handle es sich um eine gut austarierte Balkenwaage. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Denn um das Geschäftsmodell attraktiv erscheinen zu lassen, greift die Autorin ganz zwanglos auf zwei weitere "Experten" zurück, diesmal auf zwei Praktiker:

► Manfred Mierau, Baubiologie Maes, Büro Aachen, gemäß Selbstauskunft Dipl.-Biologe.
Stephanie Zeller, Baubiologin in Füssen (2013 IBN-Fernlehrgang Baubiologie), gemäß Selbstauskunft Dipl.-Ing. (FH) Elektrotechnik.

Dass diese beiden "Experten" ihren Lebensunterhalt u.a. mit irrationalen Ängsten gegenüber Elektrosmog bestreiten und daher ohne Wenn & Aber einem kommerziellen Interessenkonflikt unterliegen, juckte die Autorin ebenfalls nicht. Unsere Balkenwaage gerät deshalb weiter aus der Balance. Die Autorin stört dies nicht. Sie verwurstet noch einen Professor, der an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg angeblich die Wirkung von Dect- und W-Lan-Signalen auf die Herzratenvarianz des menschlichen Organismus erforscht. Das hört sich nach ernsthafter Wissenschaft an. Doch der Professor ist kein ergebnisoffener Forscher, sondern der einschlägig als selbstdiagnostizierter "Elektrosensibler" bekannte Mario Babilon, der an einer wissenschaftlichen Objektivierung seiner unerwünschten Feldwahrnehmung kein Interesse zeigte.

Fazit: Um ein Geschäftsmodell zu preisen greift die Autorin des Beitrags auf die Stimmen von "Experten" zurück, die kein Gericht dieser Welt als fachlich qualifizierte unabhängige Sachverständige anerkennen würde. Unter diesen Umständen ist aus meiner Sicht nicht mehr von einer falschen Ausgewogenheit der Mobilfunkdebatte zu reden, sondern von einer Vorspiegelung falscher Tatsachen. Das Geschäftsmodell "EMF-freies Hotel" selbst ist wertungsfrei. Wenn ein Hotelier glaubt, mit so einem pseudowissenschaftlichen Alleinstellungsmerkmal sein Haus über die Runden bringen zu können, ist dies allein seine Sache. Aber: Damit das Geschäftsmodell funktioniert, müssen zwangsläufig in der Bevölkerung irrationale Ängste gegenüber EMF geweckt oder geschürt werden, nur so ist überhaupt eine Nachfrage nach dem Angebot möglich. Rationale Ängste gegenüber EMF lassen sich nach dem Stand des Wissens nicht wecken, auch wenn Vereine und Geschäftemacher der Anti-Mobilfunk-Szene dies seit etwa 30 Jahren immer wieder neu versuchen, ist es ausnahmslos bei gescheiterten Versuchen geblieben.

Ein mieser Geschäftemacher ist zweifellos, wer zuerst gratis irrationale Ängste gegenüber EMF predigt und es sich später gut bezahlen lässt, seinen Opfern diese Ängste wieder zu nehmen. Zum Beispiel mit unnötigen Messungen, mit Schirmung oder Pülverchen oder mit pseudowissenschaftlichem Hokuspokus. Die Schändlichkeit dieses Tuns dürfte außer Frage stehen. Doch macht sich auch ein Hotelier schuldig, der sein "EMF-freies Haus" anpreist und insgeheim jeden Medienbericht begrüßt, der Elektrosmog mit Tod & Verderben in Verbindung bringt? Leider hat die Autorin dieser für Hoteliers wahrscheinlich bewegenden Frage in ihrem Artikel gar keinen Raum gegeben.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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