10. Diagnose-Funk von "bahnbrechendem Urteil" entzückt (2024) (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Dienstag, 13.08.2024, 17:46 (vor 124 Tagen) @ H. Lamarr

Kein Zweifel, Deutschland schmort im Sommerloch. Sogar der Bundeskanzler macht Pause. Doch das Führerhauptquartier organisierter Mobilfunkgegner in Stuttgart lässt sich davon nicht unterkriegen. Es belebt seine erschöpften Streitkräfte mit der Meldung von einem angeblich bahnberechenden Grenzwerturteil, erstritten von der Rechtsanwältin Sibylle Killinger in einem Berufungsverfahren vor dem Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in Koblenz. Noch sind die Schlüsselfiguren guter Dinge, doch sie werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit scheitern. Wollen wir wetten?

Der Streit, um den es geht, dreht sich im Wesentlichen um die fristgerechte Postzustellung eines Verwaltungsakts, damit dagegen ein rechtsgültiger Widerspruch eingelegt werden kann. Bei dem Verwaltungsakt handelt es sich um eine am 4. August 2021 erteilte Standortbescheinigung für einen neu zu errichtenden Mobilfunksendemasten im Umfeld der Kläger (ein Ehepaar). Das Verwaltungsgericht Mainz wies die Klage am 1. März 2023 mit der Begründung ab, die einmonatige Widerspruchsfrist gemäß § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO sei bei Eingang des Widerspruchs bei der Beklagten am 31. Januar 2022 bereits abgelaufen gewesen (Urteil 3 K 222/22.MZ). Sibylle Killinger, Prozessbevollmächtigte der Kläger ging in Berufung und erstritt am 4. April 2024 vor dem OVG in Koblenz, dass das Urteil aufgehoben ist und der Fall zur Neuverhandlung an das Verwaltungsgericht Mainz zurückverwiesen wurde (Urteil 1 A 10814/23.OVG).

Soweit der unspektakuläre Sachverhalt, wie er sich aus meiner Sicht aus dem Urteil des OVG ableiten lässt. Sibylle Killinger deutet im Interview mit Diagnose-Funk das Urteil jedoch ganz anders. Sie erkennt darin ein "bahnbrechendes Berufungsurteil". Da ich kein Jurist bin, kann ich die Rechtsauffassung von Killinger fachlich weder beurteilen noch widerlegen, das müssen andere übernehmen. Dennoch habe ich eine begründete Meinung zu dem Interview und diese lautet: Killinger will sich dramatisch in Szene setzen und versucht einem Formfehler des VG eine bahnbrechende Wendung zu geben. Doch wenn ich mich nicht irre, wird der Popanz, den sie derzeit mithilfe der Blähboys aus Stuttgart aufbläst, in spätestens zwei Jahren luftleer am Boden liegen. Denn die "Rechtmäßigkeit der Grenzwerte für Mobilfunkstrahlung" steht allein für die dilettantischen Stuttgarter Mobilfunkgegner infrage – und für sonst niemanden.

Meine Einschätzung begründe ich wie folgt:

► Frau Killinger ist nicht nur Rechtsanwältin, sie ist auch Sprecherin der Anti-Mobilfunk-Bürgerinitiative "Solidargemeinschaft Funk", die sich gegen die Errichtung eines 5G-Mobilfunkmasten in ihrem Wohnort Neubeuern gebildet hat. Die Anwältin ist damit gegenüber dem "Risiko Mobilfunk" nicht unvoreingenommen, sondern persönlich betroffen, was üblicherweise für das Urteilsvermögen nicht von Vorteil ist. Neubeuern war lange Sitz des "Institut für Baubiologie Neubeuern" (IBN) bevor dieses nach Rosenheim umgezogen ist. Eine Verbindung zwischen IBN und Killinger konnte ich im www jedoch nicht ausfindig machen.

► Killinger schürt irrationale Ängste gegenüber Funkmasten mit der Behauptung: "Das Ehepaar ist direkt betroffen, die beiden wohnen nur 430 Meter vom geplanten Mast entfernt." Dieser Abstand ist riesig! Auch wenn sich ohne Kenntnis der Gegebenheiten vor Ort daraus eine qualifizierte Abschätzung der EMF-Immission nicht ableiten lässt. Das OVG beziffert den Abstand übrigens auf 450 Meter.

► Killinger behauptet über einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2002: "[...] In dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde eine Verfassungsbeschwerde eines Klägers nicht zur Entscheidung angenommen, das Gericht lehnte sie also ab. Auch damals schon hatte der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner körperlichen Unversehrtheit durch einen Mobilfunkmasten in der Nähe seines Wohnhauses geltend gemacht. Die Beschwerde wurde damals vom Verfassungsgericht mit der Begründung abgelehnt, dass der Bundesregierung ein sehr weit gefasster Einschätzungsspielraum hinsichtlich der Richtigkeit der Grenzwerte zustünde. Daher fand in den letzten 22 Jahren bei den Gerichten sozusagen keine inhaltliche Auseinandersetzung mehr statt zur möglichen Gesundheitsschädlichkeit von Mobilfunkstrahlung."

Aus meiner Sicht erzählt Frau Killinger hier nur die halbe Wahrheit. Da sie sich über den Vorgang von 2002 nur vage äußert, kann ich nicht die Hand ins Feuer legen, aber aller Voraussicht nach handelt es sich dabei um eine Beschwerde eines gewissen Hans Gaida, der seinerzeit von dem Rechtsanwalt W. Krahn-Zembol vertreten wurde. Mit der Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverfassungsgericht war der Fall jedoch nicht erledigt, wie Killinger einem glauben machen möchte, denn Krahn-Zembol zog damals damit weiter vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Das hätte er besser bleiben lassen sollen, denn am 3. Juli 2007 wies der EGMR die Beschwerde einstimmig ab, Funkwellen verletzen keine Menschenrechte! Wer sich ausführlich mit dem Urteil des EMGR auseinandersetzen möchte, kann dies hier tun.

► Killinger behauptet: "[...] Außerdem hat das VG Mainz in seinem klageabweisenden Urteil festgestellt, dass es die geltenden Mobilfunkgrenzwerte ggf. als „völlig unzureichend zum Schutz der menschlichen Gesundheit“ ansehe."

Hier zitiert die Anwältin das VG nicht korrekt. Da das Urteil des VG öffentlich nicht einsehbar ist, muss ich meine Einschätzung mit dem Urteil des OVG belegen. Dort ist im Abschnitt 4 zu lesen: "[...] In der Sache selbst wiederholten und vertieften die Kläger ihr bisheriges Vorbringen." Dann folgt im Abschnitt 5 mutmaßlich das Vorbringen der Kläger, nur erkennbar daran, dass das OVG in indirekter Rede zitiert. Dabei könnte es sich allerdings auch um ein Vorbringen des VG handeln. Wie dem auch sei, was beim OVG zu lesen ist, liest sich so oder so anders als bei Killinger:

[...] Zwar seien die Kläger trotz der Entfernung zwischen ihrem Wohnhaus und dem Vorhabenstandort von rund 450 m klagebefugt, da nicht offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausgeschlossen werden könne, dass die Standortbescheinigung – sollten sich die Grenzwerte der 26. BImSchV nach gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen als völlig unzureichend erweisen – sie in ihren Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz verletze.

Grundrechte der Kläger werden also nur dann verletzt, "sollten sich die Grenzwerte der 26. BImSchV nach gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen als völlig unzureichend erweisen." Den unterstrichenen Einschub hat Killinger großzügig weggelassen. Das hätte auch der überforderte Interviewer merken können, hätte er sich professionell vorbereitet. Killinger musste die Passage aus gutem Grund weglassen, denn diese "gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse" liegen eben nicht vor! Und weil sie nicht vorliegen und nichts darauf hindeutet, dass sie demnächst vorliegen werden, wird dem Popanz, den sie so kunstvoll für die "Stopfgänse" des Stuttgarter Vereins aufbläst, schneller als ihr lieb ist die Luft ausgehen.

► Dem OVG zufolge rügte Killinger in ihrem Widerspruch auf die Standortbescheinigung "[...] im Wesentlichen, mit den der Standortbescheinigung zugrundeliegenden Grenzwerten nach der 26. BImSchV werde nicht ausreichend sichergestellt, dass durch die Mobilfunkstrahlung keine Gefahren für die Allgemeinheit und die Nachbarschaft hervorgerufen werden können." Soso, das rügt sie also.

Anscheinend erwartet die Anwältin auch nach 30 Jahren Massenfunk noch immer eine grenzenlose Schutzpflicht des Staates selbst gegenüber hypothetischen Risiken. Mit dieser Erwartungshaltung ist Frau Killinger nicht die Erste und Einzige. Deshalb gibt es dazu richterliche und höchstrichterliche Urteile, die dieser Erwartungshaltung eine Absage erteilen. Mehr dazu hier.

Fazit: Noch sind Frau Killinger und Diagnose-Funk in der fraglichen Angelegenheit nicht gescheitert. Das ist meiner Einschätzung nach jedoch unausweichlich. Egal wie's kommt, das IZgMF wird am Ball bleiben und berichten.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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