Icnirp-Richtlinien 2020: Stellungnahme zu Wissenslücken (Forschung)
Bei den Recherchen für die Icnirp-Richtlinien 2020 hat die Kommission eigenen Angaben zufolge fünf Wissenslücken festgestellt, die sie in einer vor wenigen Tagen veröffentlichten Stellungnahme konkret benennt und Forschungsempfehlungen ausspricht. Keine Wissenslücken sieht Icnirp unter anderem bei zwei Liebingsthemen organisierter Mobilfunkgegner, was in deren Kreisen mutmaßlich für Empörung sorgen wird.
Die Icnirp-Stellungnahme zu erkannten Wissenslücken erschien am 13. Dezember 2024 online in dem Journal Health Physics unter dem Titel "Gaps in Knowledge Relevant to the 'ICNIRP Guidelines for Limiting Exposure to Time-Varying Electric, Magnetic and Electromagnetic Fields (100 kHz TO 300 GHz)" (Volltext). Das Manuskript wurde am 24. September 2024 eingereicht. Icnirp selbst macht wegen der Stellungnahme keinen Wind, auf der News-Seite des Icnirp-Webauftritts sucht man sie momentan vergeblich. Man muss schon gezielt im Icnirp-Webauftritt nach der Stellungnahme suchen, um in den Tiefen der Website auf diese Kurznotiz zu stoßen. So ist es einer Hot-New-Meldung von Microwave News zu verdanken, dass die Stellungnahme der Kommission mein Radar nicht länger unterfliegt.
Zusammenfassung der Stellungnahme
In den letzten 30 Jahren haben sich sowohl Beobachtungs- als auch experimentelle Studien mit möglichen gesundheitlichen Auswirkungen der Exposition gegenüber hochfrequenten elektromagnetischen Feldern (EMF) befasst und potenzielle Interaktionsmechanismen untersucht. Das Hauptziel von ICNIRP besteht darin, Menschen und die Umwelt vor schädlicher Exposition gegenüber allen Formen nichtionisierender Strahlung (NIR) zu schützen, indem die Kommission durch die Entwicklung und Verbreitung von Expositionsrichtlinien auf der Grundlage der verfügbaren wissenschaftlichen Forschung zu bestimmten Teilen des elektromagnetischen Spektrums Beratung und Orientierungshilfe bietet.
Bei der Entwicklung der Richtlinien der Internationalen Kommission zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung (ICNIRP) für hochfrequente EMF aus dem Jahr 2020 wurden einige Lücken in den verfügbaren Daten festgestellt. Um weitere Forschung zu Wissenslücken in der Forschung zu fördern, die, wenn sie angegangen würden, ICNIRP bei der Weiterentwicklung von Richtlinien und der Festlegung überarbeiteter Empfehlungen zur Begrenzung der Exposition helfen würden, werden in dieser Stellungnahme Datenlücken beschrieben, die während der Entwicklung der Hochfrequenz-EMF-Richtlinien von 2020 in Verbindung mit der anschließenden Berücksichtigung der Literatur festgestellt wurden.
Beachten Sie, dass dieser Prozess und die daraus resultierenden Empfehlungen nicht dazu gedacht waren, traditionellere Forschungsagenden zu duplizieren, deren Schwerpunkt auf der Erweiterung des Wissens in diesem Bereich im Allgemeinen liegt, sondern sich eng auf die Ermittlung der höchsten Prioritäten für Datenlücken bei der Entwicklung von Leitlinien im Besonderen konzentrierte. Diese Unterscheidung hat zur Folge, dass die vorliegenden Empfehlungen zu Datenlücken einige Lücken in der Literatur nicht berücksichtigen, die im Prinzip für die Gesundheit im Zusammenhang mit hochfrequenten EMF relevant sein könnten, aber ausgeschlossen wurden, weil entweder der Zusammenhang zwischen Exposition und Endpunkt oder der Zusammenhang zwischen Endpunkt und Gesundheit in der Literatur nicht ausreichend belegt war.
Bei der Auswertung dieser Forschungsbereiche wurden folgende Datenlücken festgestellt: (1) Probleme im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen der Exposition gegenüber hochfrequenten EMF und hitzebedingten Schmerzen; (2) Klärung der Beziehung zwischen Ganzkörperexposition von 100 kHz bis 300 GHz und Anstieg der Kerntemperatur als Funktion der Expositionsdauer und kombinierter EMF-Expositionen; (3) Schwellenwerte für schädliche Wirkungen und thermische Dosimetrie für eine Reihe von Augenstrukturen; (4) Schmerzschwellen für Kontaktströme unter einer Reihe von Expositionsszenarien, einschließlich der zugehörigen Dosimetrie; und (5) eine Reihe zusätzlicher Dosimetrie-Studien, um sowohl zukünftige Forschung zu unterstützen als auch die Anwendung von Beschränkungen der Exposition gegenüber hochfrequenten EMF in zukünftigen Richtlinien zu verbessern.
Keine Wissenslücken ...
... sieht Icnirp unter anderem bei "oxidativem Stress" und bei "Elektrosensibilität". Dies dürfte in der Szene organisierter Mobilfunkgegner als Provokation aufgefasst werden und giftige Kommentare zur Folge haben. Icnirp begründet in der Stellungnahme seine Entscheidungen, doch weil die Forschung zu "Elektrosensibilität" schon lange keine substanziell neuen Erkenntnisse mehr hervorgebracht hat, gebe ich folgend nur Icnirps Begründung zu oxidativem Stress in deutscher Übersetzung wieder. Denn dieser Trampelpfad ist noch nicht so ausgetreten. Erstaunlicherweise beruft sich Icnirp nicht auf diese aktuelle systematische Review, sondern greift weiter zurück:
Oxidativer Stress
Oxidativer Stress ist bekanntermaßen an vielen unterschiedlichen Prozessen beteiligt, die zum Zelltod führen und durch reaktive Sauerstoffspezies (ROS) vermittelt werden. Freie Radikale reagieren mit Membranlipiden, Enzymen und anderen essenziellen Zellkomponenten, was potenzielle Folgen für die menschliche Gesundheit haben kann.
In einer Reihe experimenteller Studien wurde untersucht, ob hochfrequente EMF die Radikalhomöostase der Zelle beeinflussen können, indem sie verschiedene Radikalspezies bilden und somit als Auslöser von Ereignissen fungieren, die zu Veränderungen im oxidativen Status der Zelle führen können, die wiederum an der Entwicklung von Krankheitsprozessen beteiligt sein können (siehe z. B. Consales et al. 2012). Die meisten Studien, die sich mit der Bewertung der Fähigkeit von Hochfrequenzstrahlung befassen, den Oxidationszustand der Zellen zu verändern, wurden durch Messung der Bildung reaktiver Sauerstoffspezies (ROS) durchgeführt, obwohl in einigen Fällen auch andere mit oxidativem Stress zusammenhängende Ziele bewertet wurden, wie die antioxidative Enzymaktivität, der Glutathion(GSH)-Abbau und die mitochondriale RNA. In einigen Fällen wurden diese Messungen mit anderen zellulären und molekularen Endpunkten sowohl in In-vitro- als auch in In-vivo-Modellen durchgeführt, um den Einfluss der Hochfrequenzstrahlung zu untersuchen.
Einige Zellular-Studien berichteten über einen Anstieg der ROS-Werte (z. B. Liu et al. 2013, 2014; Sefidbakht et al. 2014; Marjanovic Cermak et al. 2018), während die Mehrheit negative Ergebnisse erzielte (z. B. Luukkonen et al. 2009, 2010; Poulletier de Gannes et al. 2011). Darüber hinaus zeigten die bisher vorliegenden Daten aus den relativ wenigen Tierstudien noch immer mehrdeutige Ergebnisse, wenn man die Ergebnisse aus verschiedenen Geweben, Organen und Laboren vergleicht. So wurde über eine Zunahme des oxidativen Stresses im Gehirn (Alkis et al. 2019), in der Leber (Ismaiil et al. 2019) und in den Hoden (Jonwal et al. 2018) berichtet, während Okatan et al. (2018a) und Postaci et al. (2018) von einer Verringerung der Parameter für oxidativen Stress in der Leber und Okatan et al. (2018b) in der Niere berichteten. Weitere Untersuchungen konnten diese Diskrepanzen nicht aufklären. Dementsprechend wurden keine Datenlücken festgestellt.
--
Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –