Alle denken an sich, nur ich, ich denk an mich! (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Freitag, 14.03.2008, 00:22 (vor 5957 Tagen) @ Moderator X

Ueberhaupt bin ich immer noch schockiert, wie sich ehemalige Mitstreiter gegenüber eigenen ehemaligen Verbündeten äussern können und die Einstellung gegen die sog. ES, nur wenn man merkt, dass es einen nicht selber betrifft.

Fee, ich weiß zwar nicht genau, wen Sie hier im Auge hatten und was genau Sie sagen möchten, aber ich habe den Eindruck, dass Sie es für verwerflich halten, wenn sich Leute wie ich gegen "ehemalige Mitstreiter" wenden.

Wie Sie sich leicht denken können, bin ich da ganz anderer Meinung. Nach etlichen Jahren der Mobilfunkkritik mit tagtäglichen Diskussionen hat sich bei mir eine andere Sicht der Dinge eingestellt, eine Sicht, die unabhängig ist von dem, was unsere Frontleute so predigen. Und das finde ich nun überhaupt nicht schlimm, selbst dann nicht, wenn dies für mich bedeutet, gegen den Strom schwimmen zu müssen. Was ich damit meine, können sie am besten in Ihrem Heimatforum nachlesen, denn dort werde ich unter anderem als "Verräter" beschimpft. Und das nur, weil ich nicht mehr ins selbe Horn stoße, wie die große Meute. Bevor mich nun das Selbstmitleid übermannt, möchte ich aber noch anmerken, dass das erst Mit- und dann Gegen-den-Strom schwimmen gar nicht so selten ist. Und ob es verwerflich ist, darüber lässt sich prima streiten.

Nehmen sie zum Beispiel hier in Deutschland, genauer in Hessen, die wackere Frau Metzger. Die schwimmt zum großen ärger der SPD-Oberen stur gegen den Strom, der Frau Ypsillanti ins Amt der Ministerpräsidentin hätte spülen sollen. Mir gefällt diese Frau, die hat mMn Format.

Ein anderes Beispiel ist der kürzlich verstorbene Computerpionier und legendäre Chef des "MIT Computer Lab" Joseph Weizenbaum. Lesen Sie ruhig mal die Kurzgeschichte von Klaus H. Knapp, wie es dazu kam, dass der Weizenbaum vom Computerfreak zum Computerskeptiker wurde, sich also sozusagen um eine Generation weiter entwickelt hat:

Am 5. März 2008 starb der eremitierte MIT-Professor für Computer Science Joseph Weizenbaum in (Bild) seiner Vaterstadt Berlin im Alter von 85 Jahren an einer unheilbaren Krankheit. [image]Weizenbaum emigrierte im Alter von 13 Jahren mit seiner Familie vor den Nazis aus Berlin. Er studierte später an der Wayne State University, wo der 1950 seinen Master of Science ablegte. Er blieb zunächst an der Universität und stieg dort früh in die Computerforschung ein.
Mitte der 50er Jahre wechselte er in das Computerlabor von GE, um dann 1963 als Associate Professor an das Massachusetts Instituite of Technology in Cambridge (Massachusetts) zu gehen. 1966 brachte er es zu weltweitem Aufsehen, als er das Computerprogramm ELIZA veröffentlichte. ELIZA war in der Computersprache MAC-LISP geschrieben und lief auf einer IBM 7094 am MIT. Technisch gesehen ging es dabei um den Nachweis, dass die Erkennung von menschlichen Äußerungen (eingegeben über eine Tastatur) zu Dialogen mit dem Computer führen kann. Fragen und Antworten von beiden Seiten wurden über einen Bildschirm wiedergegeben.
Das ELIZA-Programm fing nach kurzer Zeit an, ein Eigenleben zu führen, als man eine Version für psychisch gestörte Menschen testete. Es ermöglichte dem Patienten eine ständige und zeitlich unlimitierte Diskussion von psychischen Problemen, ganz ohne Arzt, durch direkte Kommunikation mit der Maschine. Das Programm war so aufgebaut, dass es sich an Äußerungen des Patienten anklammerte, geschickt Aussagen als Fragestellungen wiederholte und so Verständnis simulierte. Wegen dieser individuellen Reaktion der Maschine auf seine ganz persönlichen Probleme berichtete der Patient dann immer mehr von sich, was neuerliche Fragen und Kommentare des Computers initiierte. Dies führte schließlich den Patienten in eine Abhängigkeit von der Maschine, so dass er seinen Therapeuten überhaupt nicht mehr sprechen wollte. Weizenbaum war entsetzt und stand von Stund an der Computertechnologie eher kritisch gegenüber.
Das hinderte das MIT nicht, ihn 1970 zum Professor zu machen. Unermüdlich mahnte Weizenbaum einen kritischen Umgang mit dem Computer an, verurteilte die in den 70er Jahren sich exlosionsartig verbreitende Computergläubigkeit und erinnerte seine Kollegen an ihre Verantwortung.
Sein Wandel vom Computer-Befürworter zum Computer-Kritiker war kompromislos. Bis zuletzt hielt er daran fest, dass man keinen noch so großen Computer bauen könnte, der einen Menschen ersetzen kann: "Man hat doch keinen Bauplan für eine Seele! Wer glaubt, da sei kein Geheimnis mehr drin, alles sei eine Funktion von Beziehungsgeflechten, der irrt. Man kann doch in einem Computer nur programmieren, was man in Algorithmen fassen kann. Wie will man Gefühle beschreiben! Wie will ein Computer sagen, was er über ein Bild denkt! Oder wie will er Emotionen ausdrücken!"
Der Autor dieses Nachrufs hat Weizenbaum in einer Diskussion erlebt, in der die mentalen Fragen des Menschen und deren "Computerisierung" im Vordergrund standen. Weizenbaum: "Legt man einem Menschen die Hand auf die Schulter, dann hat das - rein physikalisch betrachtet - keine besondere Bedeutung. Wenn aber jemand allein ist, Sorgen hat oder angestrengt arbeitet und es legt ihm ein anderer die Hand auf die Schulter, dann beweist er dadurch Mitgefühl. Wenn aber ein Polizist einer suspekten Person die Hand auf die Schulter legt, dann bedeutet das doch etwas ganz anderes - vielleicht sogar das Ende der persönlichen Freiheit. Wie will man solche Unterschiede programmieren?" Weizenbaum war wortgewaltig und selbst im fortgeschrittenen Alter noch sehr emotional bei seinen Äußerungen.
Anfang der 90er Jahre zog sich Weizenbaum aus der Lehrtätigkeit am MIT zurück. In der Zwischenzeit war sein Name so zugkräftig, dass er die Welt bereiste, um Vorträge zu halten und sich an einschlägigen Diskussionen zu beteiligen. 1996 ging er in seine Geburtsstadt Berlin zurück. Er lebte dort im Nikolaiviertel, mit Blick auf den Berliner Dom, in einer eher kleinen Wohnung, nicht weit weg von seinem Geburtsort. Im Wintersemester 1998 war er nochmals als Gastprofessor an der Universität Bremen. In den letzten drei Jahren ist es eher ruhig um ihn geworden. Vor zwei Jahren wurde ein 80-minüter Film mit und über ihn gedreht "Weizenbaum - Rebel at Work". Er zeigt ihn wie er war: Uneitl, originell und verschmitzt als moralische Instanz.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Rufschädigung, Nachruf, Sterben, Weizenbaum


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