Pascal Sigg setzt Kathrin Luginbühl in Szene (Allgemein)
Damit die Legende von den "Elektrosensiblen" nicht einschläft, wird sie auch in der Schweiz mit Medienberichten regelmäßig aufgefrischt. Jüngstes Beispiel vom April 2025 ist der Artikel Die Reise ins «Strahlenréduit». Der Journalist Pascal Sigg erzählt darin die traurige Geschichte der "Elektrosensiblen" Kathrin Luginbühl, die wegen eines Funkmastes ihre Bleibe im Örtchen Hadlikon im Februar 2025 aufgeben und in eine abgelegene Berghütte ziehen musste.
Streng genommen sollte sich ein Journalist mit dem Objekt seiner Recherche nicht gemein machen, weder zustimmend noch ablehnend. Diese Distanz lässt sich jedoch kaum durchhalten, wenn ein Journalist nicht leidenschaftslos recherchiert, sondern leidenschaftlich. Etwa, weil er zum Thema eine feste, persönliche Meinung hat. In solchen Fällen kann ein Artikel formal ausgewogen und doch tendenziös sein, weil der Verfasser ein Interesse daran hat, Leser in seinem Sinn zu beeinflussen. Aus meiner Sicht ist Pascal Sigg, Autor des Artikels, kein schlechter Journalist, beim Thema Mobilfunk haben seine Texte jedoch Schlagseite zugunsten organisierter Mobilfunkgegner. Und das Schulterklopfen der Szene ist ihm sicher, wenn er nebenbei bei den Lesern Zweifel an der Neutralität des Schweizer Bafu weckt. Zu dieser distanzierten Einschätzung hat mich nicht allein Siggs Geschichte über Luginbühl gebracht, sondern zuvor dieser Vorfall.
Konkret werfe ich Sigg vor, dass er Luginbühl gegenüber völlig unkritisch geblieben ist, obwohl die Schilderungen der überzeugten Elektrosensiblen dem Zuhörer eine beträchtliche Glaubensstärke abverlangen. Naheliegend wäre z.B. die Frage gewesen, warum sich die ausgebildete Direktionsassistentin in all den Jahren keinen Provokationstests unter strenger wissenschaftlicher Aufsicht unterzogen hat, um ihre behauptete "Elektrosensibilität" zu objektivieren. Sie wäre möglicherweise weltweit die erste gewesen, die solche Tests signifikant erfolgreich absolviert hätte. Ihr und ihren Leidensgenossen wäre damit viel mehr geholfen gewesen, als mit dem Komponieren alberner Lieder über angebliche Benachteiligungen "Elektrosensibler".
Die Ablehnung von Luginbühls Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte liest sich in der Übersetzung der Entscheidung doch merklich anders, als das, was Luginbühl Sigg erzählt hat. Allein wegen des Risikos der Schönfärberei halte ich es für journalistisch fragwürdig, Betroffenen ihre Worte von den Lippen abzulesen und ohne Prüfung des Wahrheitsgehalts zu verwursten.
Unter der Zwischenüberschrift "Einzel- statt Massentests" schreibt Sigg: "Als eine der ersten hielt eine ETH-Studie im Jahr 2000 fest, dass es Menschen gebe, «die elektrische und magnetische Felder im Feldstärkebereich unterhalb der Immissionsgrenzwerte bewusst wahrnehmen können oder deren Wohlbefinden und Verhalten durch elektrische und magnetische Felder beeinflusst wird».
Stimmt alles, das war das Nemesis-Projekt. In dem Artikel ist dieses Projekt jedoch ein Irrläufer, denn mit Luginbühls "Elektrosensibilität" gegenüber Mobilfunkfeldern (HF-EMF) hat es nichts zu tun. Befeldet wurden seinerzeit Probanden mit niederfrequenten elektrischen oder magnetischen Feldern (NF-EMF), aber nicht mit elektromagnetischen Feldern des Mobilfunks. Die Studie ist echt, sie gehört wegen eines völlig anderen Wirkmodells (Reizwirkung) jedoch nicht in Siggs Artikel über eine HF-EMF-"Elektrosensible".
Und gleich noch einmal. Sigg zufolge haben Schweizer Experten in einem Bericht eine US-Studie von 2011 erwähnt. Wörtlich geht es in dem Artikel dann so weiter, wobei kunstvoll offen bleibt, wer die dort angesprochene Anfrage gestartet hat (Sigg oder die Experten):
Andrew Marino, der verantwortliche Forscher, schreibt auf Anfrage: «Wir kamen zum Schluss, dass Elektrohypersensitivität existiert. Aber alle, die darunter leiden, sind einzigartig. Die einzige Forschungsanlage, die EHS entdecken kann, ist unser Design: Man untersucht, wie ein einzelner Mensch auf ein elektromagnetisches Feld reagiert, und vergleicht dies mit seiner Reaktion auf eine Scheinexposition.»
Das liest sich jetzt wie aus einem Werbeprospekt für Marinos Forschungsanlage. Freundlicherweise hat Sigg einen Link zur Marino-Studie spendiert. Aus dem Abstract geht hervor, dass auch diese Studie ein Irrläufer in Siggs Artikel ist. Diesmal wurde eine einzige Person (!) mit einem elektrischen 60-Hz-Wechselfeld (300 V/m) befeldet, also wieder NF-EMF statt HF-EMF. Die Testperson berichtete 100 Sekunden nach Beginn des Tests von Symptomen (z.B. Kopfschmerzen, Muskelzuckungen) jedoch nicht während das Feld einwirkte, sondern, nur wenn es ein- oder abgeschaltet wurde. Mit Luginbühl hat diese Studie zwar nichts zu schaffen, sie klingt aber erstmal interessant. Dann aber heißt es im Abstract: "Die Versuchsperson nahm das Feld nicht bewusst wahr, was sich daran zeigte, dass sie dessen Anwesenheit nicht häufiger als die Scheinkontrolle melden konnte."
Game Over.
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Hintergrund
Hadlikon & Mobilfunk: Ein Weiler wächst über sich hinaus
EGMR-Urteil: Katharina Luginbühl gegen die Schweiz
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –