Athem 3: Langzeitexposition mit Fragezeichen (Forschung)

H. Lamarr @, München, Freitag, 21.06.2024, 23:32 (vor 141 Tagen) @ H. Lamarr

In ihrer vor wenigen Tagen herausgegebenen Athem-3-Kurzvorstellung behauptet die "Kompetenzinitiative":

[...] Die beobachteten Signifikanzen zeigen [...] Evidenz dafür, dass Langzeitexposition ein Gesundheits-Risiko mit sich bringt. [...]

Das behauptete Gesundheitsrisiko sind im Klartext Chromosomenaberrationen (siehe Belyaev et al., 2024), die bei Neugeborenen z.B. zu körperlichen oder geistigen Behinderungen führen können.

Was unter "Langzeitexposition" konkret zu verstehen ist, darum drückt sich die Kurzvorstellung kunstvoll mit Begriffen wie "jahrelang", "nach Jahren der Exposition" oder "über Jahre hinweg" herum. Ersichtlich will die "Kompetenzinitiative" sich da nicht festlegen und alle Optionen offen halten.

Ganz anders die Studie der Arbeitsgruppe Belyaev, die im Rahmen des Athem-3-Projekts durchgeführt wurde. Dort wird die "Langzeitexposition" indirekt mit (mindestens) fünf Jahren beziffert. Nur indirekt, weil als Expositionsquelle(n) eine oder mehrere Mobilfunk-Basisstationen im Regelbetrieb dienten und die Probanden beider Expositionsgruppen seit mindestens fünf Jahren nah oder fern von diesen Expositionsquellen wohnen.

Die Mobilfunk-Expositionsquellen sind der Schwachpunkt des Projekts

Über die Mobilfunk-Basisstationen, die in dem Belyaev-Paper mit dem ungebräuchlichen Kürzel MPBS (Mobile Phone Base Station) auftauchen, gibt die Studie abgesehen von den angebotenen Mobilfunkdiensten (GSM + LTE) lediglich Auskunft über die HF-EMF-Exposition, die bei den beiden Probandengruppen ankam. Über das Datum der Messungen schweigt die Studie. Die schlecht dokumentierten HF-EMF-Messungen mit einem Breitbandmessgerät inklusive Messwertaufzeichnung fanden anscheinend an fünf Tagen (es könnte auch nur ein Tag gewesen sein) rund um die Uhr an den Schlafstellen der Probanden statt, ausgewertet wurde von der Aufzeichnung der Zeitraum von 22:00 Uhr bis 6:00 Uhr.

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

Die Mobilfunk-Befeldungsstärken, denen die beiden Probandengruppen ausgesetzt waren, kann man sich hier anschauen und die "Kompetenzinitiative" geht offensichtlich davon aus, dass die Personen der höher exponierten Gruppe den genannten Werten über mindestens fünf Jahre hinweg ausgesetzt waren.

Ich sehe das anders und halte die stillschweigend angenommene Projektion der tatsächlichen Messdauer, egal ob sie einen oder fünf Tage dauerte, rückwirkend auf fünf Jahre aus zwei Gründen für unzulässig.

► Mobilfunknetzbetreiber passen ihre Funknetze in regelmäßigen Abständen an die dynamische Entwicklung der Netze an. So wirkt sich z.B. der Wegfall eines Standorts ebenso wie das Hinzukommen eines neuen Standorts auf die Emission aller benachbarten Standorte aus. Dies trifft auch dann zu, wenn an den von Athem 3 betrachteten Sendestationen keinerlei visuell wahrnehmbare Veränderungen stattgefunden haben.

► Aus der Existenz der von Athem 3 betrachteten Stationen zum Zeitpunkt der Messungen lässt sich nicht zuverlässig schlussfolgern, dass diese Stationen seit fünf Jahren an Ort und Stelle in Betrieb sind. Allein Anfragen bei der BNetzA können verbindlich Auskunft erbringen, wann ein Standort errichtet wurde und welche technischen Veränderungen dieser im Laufe der Zeit erfahren hat. Doch weder Belyaev noch die "Kompetenzinitiative" erwähnen in ihren Papieren eine solche Anfrage, die mMn qualitativ zwingend erforderlich gewesen wäre.

Skandal in Austria

Mutmaßlich vertrauten die Verantwortlichen des Athem-3-Projekts auf Auskünfte der Bevölkerung, dass die besagten Stationen länger als fünf Jahre an Ort und Stelle stehen. Derartige Auskünfte können stimmen – oder falsch sein. Der österreichische Mobilfunkgegner Gerd Oberfeld vertraute 2008 auf solche Beteuerungen und fand um einen bekundeten (ehemaligen) Mobilfunkstandort ein 121-fach erhöhtes Hirntumorrisiko. Nachdem er seine alarmierende Studie veröffentlicht hatte, stellte sich allerdings heraus, die Beteuerungen der Anwohner waren falsch: Einen Mobilfunkstandort im Zentrum des Krebsclusters hat es nie gegeben.

Um sich eine ähnliche Peinlichkeit zu ersparen, wäre die "Kompetenzinitiative" mMn gut beraten gewesen, zumindest das Datum der Errichtung der fraglichen Mobilfunkmasten verbindlich zu klären und zu dokumentieren. Dies ließe sich auch nachträglich machen, wollte die "Kompetenzinitiative" die Zweifel an ihrem "Game-Changer" gründlich ausräumen.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Belyaev, Faktencheck, Athem3, Langzeitexposition


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