EWG vs. Icnirp: US-Umweltaktivisten fordern Grenzwertsenkung (Allgemein)
Zwei Aktivisten der US-Umweltorganisation Environmental Working Group (EWG) haben die NTP- und Ramazzini-Studie analysiert, um, in Konkurrenz zu Icnirp, daraus neue tiefer angesetzte EMF-Grenzwertempfehlungen abzuleiten. Prompt sieht sich die zuständige US-Behörde FCC Forderungen nach Grenzwertsenkungen ausgesetzt. Doch was plausibel klingt, kann sich bei näherer Betrachtung als Schuss nach hinten herausstellen.
Die Studie der EWG (Development of health-based exposure limits for radiofrequency radiation from wireless devices using a benchmark dose approach) wurde am 17. Juli 2021 in der Fachzeitschrift Environmental Health publiziert. Da sie als Open-Access-Papier angelegt ist, kann jeder sie unentgeltlich lesen. Hier die Übersetzung des Abstracts:
Hintergrund
Epidemiologische Studien und Untersuchungen an Labortieren bringen hochfrequente Strahlung (HF) mit Auswirkungen auf Herz, Gehirn und andere Organe in Verbindung. Daten aus den groß angelegten Tierstudien, die vom U.S. National Toxicology Program (NTP) und dem Ramazzini-Institut durchgeführt wurden, unterstützen die Notwendigkeit aktualisierter gesundheitsbezogener Richtlinien für die HF-Exposition der allgemeinen Bevölkerung.
Ziele
Die Entwicklung von HF-Expositionsgrenzwerten, ausgedrückt in der spezifischen Ganzkörper-Absorptionsrate (SAR), einem Maß für die von biologischen Geweben absorbierte HF-Energie.
Methoden
Unter Verwendung der Frequentistischen und Bayes'schen Mittelwertbildung von Inzidenzdaten nicht-neoplastischer Läsionen aus der NTP-Studie berechneten wir die Benchmark-Dosen (BMD), die eine 10-prozentige Reaktion über dem Hintergrund hervorrufen (BMD10). Zudem berechneten wir die unteren Konfidenzgrenzen für die BMD bei 10 Prozent zusätzlichem Risiko (BMDL10). Die Inzidenzdaten für einzelne Neoplasmen und die kombinierte Tumorinzidenz wurden für 5 Prozent und 10 Prozent Reaktion über dem Hintergrund modelliert.
Ergebnisse
Kardiomyopathie und ein erhöhtes Risiko für Neoplasmen bei männlichen Ratten waren die wichtigsten Gesundheitsauswirkungen nach HF-Expositionen bei 900 MHz mit Code-Division-Multiple-Access-(CDMA-) und Global-System-for-Mobile-Communications-(GSM-)Modulationen. Die BMDL10 für Kardiomyopathie an allen Wirkorten männlicher Ratten nach 19 Wochen Exposition, berechnet mit Bayes'scher Modell-Mittelung, entsprach 0,27-0,42 W/kg Ganzkörper-SAR für CDMA- und 0,20-0,29 W/kg für GSM-Modulation. Die BMDL10 für Kardiomyopathie des rechten Ventrikels bei weiblichen Ratten nach 2-jähriger Exposition entsprach einer Ganzkörper-SAR von 2,7-5,16 W/kg für CDMA- und 1,91-2,18 W/kg für GSM-Modulation. Für die Multi-Site-Tumormodellierung unter Verwendung des mehrstufigen Krebsmodells mit einem 5-prozentigen zusätzlichen Risiko entsprach die BMDL5 bei männlichen Ratten 0,31 W/kg für CDMA- und 0,21 W/kg für GSM-Modulation.
Schlussfolgerung
Der BMDL10-Bereich von 0,2-0,4 W/kg für Kardiomyopathie an allen Wirkorten männlicher Ratten wurde als Ausgangspunkt gewählt. Unter Anwendung von zwei zehnfachen Sicherheitsfaktoren für Interspezies- und Intraspezies-Variabilität leiteten wir einen Ganzkörper-SAR-Grenzwert von 2 bis 4 mW/kg ab, ein Expositionsniveau, das 20- bis 40-fach niedriger ist als das gesetzlich zulässige Niveau von 0,08 W/kg für Ganzkörper-SAR nach den aktuellen US-Vorschriften. Die Verwendung eines zusätzlichen zehnfachen Sicherheitsfaktors für die Gesundheit von Kindern deutet auf einen Ganzkörper-SAR-Grenzwert von 0,2-0,4 mW/kg für Kleinkinder hin.
Kurz gesagt: Die Studienautoren wollen ausgemacht haben, ab einer Ganzkörperexposition von mehr als 200 mW/kg bis 400 mW/kg drohen männlichen Ratten gesundheitlich schädliche Folgen einer Dauerexposition durch EMF. Um die Variabilität von Lebewesen zu berücksichtigen, beaufschlagen sie diese Werte mit einem Sicherheitsfaktor 100 für Erwachsene, was für diese einen Grenzwert von 2 mW/kg bis 4 mW/kg ergibt (also Faktor 20 bis 40 unter dem Icnirp-Ganzkörpergrenzwert von 80 mW/kg). Für Kinder wird ein weiterer Sicherheitsfaktor von 10 auf die genannten Werte aufgeschlagen, wobei die Autoren keine Angaben machen, wie diese Spaltung der zulässigen Exposition für Erwachsene und Kinder im Alltag durchgeführt werden soll. Doch das ist ein Detail, bedeutsamer ist: Da die Grenzwertvorschläge der Autoren auf Ganzkörperexposition beruhen, gelten sie exklusiv für die Standorte von Mobilfunksendeanlagen (z.B. Funkmasten) und nicht für Mobiltelefone.
Wie geht man mit dem Ergebnis dieser Studie um? Da die Hauptautorin Uloma Uche noch jung und deshalb vielleicht unerfahren ist, könnte man versuchen, ihr Fehler im Studiendesign nachzuweisen. Oder man staunt, wer die Peer-Reviewer der Studie waren. Organisierte Mobilfunkgegner werden das selbstredend nicht tun, sie werden die komplexen Sachverhalte mehr oder weniger verfälscht für Populismuszwecke eindampfen, die Arbeit als neue Alarmstudie feiern und Behörden damit bombardieren. Icnirp-Gegner wiederum werden sich von unabhängiger Seite bestätigt sehen.
Martin Röösli hat einen ganz anderen Umgang mit der Studie gefunden. Der Schweizer Wissenschaftler, derzeit Mitglied der Icnirp-Kommission, hat sich überlegt, welchen quantitativen Nutzen die Bevölkerung hätte, würden die von EWG vorgeschlagenen tieferen Grenzwerte tatsächlich eingeführt. Herleitung und Ergebnis seiner Überlegungen teilte er in sieben Tweets auf Twitter mit. Hier die Übersetzung:
1/7 In dieser Studie wird ein neuer Ansatz verwendet, um regulatorische Grenzwerte für Mobiltelefonstrahlung abzuleiten. Auf den ersten Blick sieht es so aus, dass wir nicht ausreichend geschützt sind, aber tatsächlich zeigt sich, dass die Exposition der Bevölkerung weit unter den kritischen Werten liegt.
2/7 Basierend auf den gut belegten NTP- und Ramazzini-Studien werden Benchmark-Dosen durch konservative Modellierung abgeleitet. Dann wird ein Sicherheitsfaktor von 100 für inter- und intraspezieselle Variation angewendet, plus ein zusätzlicher Faktor von 10 für Kinder (=Sicherheitsfaktor von 1000).
3/7 Für thermische Effekte werden solche Sicherheitsfaktoren nicht benötigt. Andernfalls wäre es uns nicht erlaubt, Sport zu treiben, in die Sauna zu gehen oder an einem sonnigen Tag draußen zu sein. Aber sie könnten eine vernünftige Worst-Case-Annahme für noch unbekannte toxikologische Wirkungspfade sein.
4/7 Dem neuen Ansatz gemäß sollte der Grenzwert bei 6-13 V/m liegen, was niedriger ist als die derzeitigen ICNIRP-Grenzwerte von 36-61 V/m für Mobiltelefonstrahlung. Doch es geht nicht nur um den Pegel, sondern auch um die Expositionsdauer.
5/7 Die Exposition in der NTP-Studie betrug lebenslang bis zu knapp 18 ½ Stunden pro Tag, abwechselnd 10 Minuten an und 10 Minuten aus. Eine solches Expositionsszenario hat jedoch keinen praktischen Wert für Expositionsrichtlinien. Sind wir also konservativ und schlagen einen Grenzwert von 6-13 V/m für 24 Stunden Einwirkdauer vor.
6/7 Solche hohen Werte sind in der Umwelt extrem selten. In unseren eigenen Messstudien mit 529 Kindern lag die mittlere Exposition durch Mobilfunkbasisstationen bei 0,17 V/m und der höchste Durchschnittswert (für 48-72h) bei 1,1 V/m. Werte größer 6 V/m sind praktisch nicht gemessen worden.
7/7 Die ICNIRP-Grenzwerte, die, gemittelt über 30 Minuten (statt 24 Stunden) nicht überschritten werden dürfen, sind also wirksam, um die Exposition der Bevölkerung auf niedrige Werte zu reduzieren. Beachten Sie, dass die Grenzwerte auf einem (maximalen) Wert und einer biologisch relevanten Expositionsdauer beruhen.
Wenn ich Röösli richtig verstehe, wertet er den Grenzwertvorschlag von EWG für die Bevölkerung als faktisch wirkungslos. Gegenüber den Icnirp-Grenzwerten, die für das heute gültige Schutzniveau gerade stehen, böte der Vorschlag keine Verbesserung. Warum nicht? Weil die mittlere EMF-Exposition der Bevölkerung durch Funkmasten trotz Icnirp-Grenzwerten auch nach rd. 30 Jahren noch immer auf sehr niedrigem Niveau ist, deutlich unter den vorgeschlagenen EWG-Grenzwerten. Allein der Grad der Grenzwertausschöpfung würde bedrohlich anschwellen (Faktor 100 oder 1000), was Profiteuren irrationaler Ängste gegenüber EMF höchst willkommen sein dürfte.
Ob ich mit meiner Interpretation von Rööslis Tweets richtig liege, weiß ich nicht. Denn wenn ich eines aus der Mobilfunkdebatte mitgenommen habe, dann die Einsicht, dass die Komplexität der Zusammenhänge einen leicht aufs Glatteis führen kann. Zudem sind einige Angaben in den Tweets mehrdeutig oder sogar irreführend, so müsste es aus meiner Sicht statt Mobiltelefonstrahlung (MobilePhone radiation) aus dem Sachzusammenhang heraus eher Funkmaststrahlung heißen. Ich habe Martin Röösli deshalb einen kleinen Fragenkatalog geschickt.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –