dramatischer Anstieg bei Immun-Abwehr-Erkrankungen (Allgemein)
Die Welt am Sonntag
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Ausgabe vom Sonntag, den 07.03.2004
Wissenschaft Medizin & Gesundheit
Angriff auf das Abwehrnetz
Die Zahl der Menschen mit bösartigen Erkrankungen des Lymphsystems steigt alarmierend. Eine Ursache ist vermutlich langjähriges Haarefärben
von Ingrid Kupczik
Das Lymphsystem arbeitet diskret und effektiv, ein dicht verzweigtes Netzwerk aus Gefäßen, Knoten, Organen, das den Körper vor Schadstoffen und Krankheitserregern schützt, für den Abtransport von Gewebsflüssigkeit sorgt, Nahrungsfette aus dem Darm ins Blut befördert, Immunzellen zu Abwehrspezialisten ausbildet. Nur gelegentlich macht sich das Lymphsystem bemerkbar. Bei einer Infektion zum Beispiel, wenn die Lymphknoten schwellen. Oder am Morgen nach einer feuchtfröhlichen Feier, wenn die Lymphe nicht rechtzeitig vor Arbeitsbeginn aus den Augenlidern weichen will. Peinlich, aber harmlos.
Alarmierend ist dagegen die Beobachtung von Experten, dass das Lymphsystem immer häufiger selbst schwer leidet: Die Zahl der Menschen mit bösartigen Erkrankungen des Abwehr-Netzwerks nimmt in den westlichen Industrienationen dramatisch zu. In Deutschland entwickeln jährlich rund 10 000 Männer und Frauen ein so genanntes Non-Hodgkin-Lymphom - doppelt so viele wie vor 20 Jahren. "Die Zahl der jährlichen Neuerkrankungen wird bis zum Jahr 2020 auf das Drei- bis Fünffache steigen", prognostiziert Professor Dr. Andreas Engert von der Universitätsklinik Köln. Damit haben maligne Lymphome die größte Zuwachsrate unter allen Krebsformen - ein zweifelhafter Superlativ. "Betroffen sind Männer genauso wie Frauen, quer durch alle Altersschichten." Zwar liege der Altersgipfel bei den Non-Hodgkin-Lymphomen um die 55 Jahre, "wir behandeln aber immer öfter auch jüngere Menschen", so Professor Engert. Als typischen Fall
nennt der Oberarzt der Abteilung Hämatologie und Onkologie an der Kölner Uniklinik jenen 27-jährigen Malermeister aus der Nähe von Köln, der beim Rasieren am Hals eine merkwürdige Schwellung bemerkt. Fest und deutlich abgegrenzt, unempfindlich gegen Druck. Eine späte Reaktion auf den gerade überstandenen grippalen Infekt? Der Mann wartet eine Woche ab - der Knoten am Hals schrumpft nicht. Er wendet sich an den Hausarzt, der ihn unverzüglich in die Ambulanz der Kölner Uniklinik schickt. Dort wird der Tumor herausgeschnitten und untersucht. Diagnose: aggressives Non-Hodgkin-Lymphom.
Die Mediziner unterteilen die zahlreichen Varianten bösartiger Erkrankungen des Lymphsystems grob in zwei Familien: die Hodgkin- und die Non-Hodgkin-Lymphome. Diese unterscheiden sich im Wesentlichen durch ihre histologische Struktur. Das Hodgkin-Lymphom zeigt unter dem Mikroskop spezielle Riesentumorzellen, beim Non-Hodgkin (NHL) gibt es sie nicht. Beide Formen können aggressiv verlaufen oder langsam voranschreiten. Die Erkrankungszahlen sind beim Hodgkin-Lymphom seit Jahren stabil, allein die NHL-Rate klettert rasant. Die Gründe sind noch nicht hinreichend geklärt. Der Kölner Experte Professor Volker Diehl vermutet als eine Ursache schädliche Umwelteinflüsse. Dazu rechnet er Konservierungsstoffe und chemische Zusätze in Nahrungsmitteln, Pestizide, Schadstoffe in Haarsprays und Kosmetika.
Auch Haarefärben steht offenbar im Zusammenhang mit Lymphomen. Das geht aus einer kürzlich veröffentlichen Studie der Yale School of Medicine hervor: Frauen, die über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren regelmäßig ihre Haare gefärbt hatten, trugen ein deutlich erhöhtes Risiko, an einem malignen Non-Hodgkin-Lymphom zu erkranken. Je dunkler der gewählte Haarton, desto größer das Risiko. Frauen, die weniger als 20 Jahre lang ihre Haare färbten, waren laut Studie nicht besonders krebsgefährdet. Denkbar sei, so Studienleiter Professor T. Zheng, dass das erhöhte Krebsrisiko mit den früher verwendeten Haarfärbemitteln und ihren aggressiven, teils Krebs erregenden Inhaltsstoffen zusammenhängt. Auf Grund der noch mageren Datenlage sei es aber zu früh, Entwarnung für das Haarefärben mit den modernen, "gesünderen" Substanzen zu geben. Immerhin könnte es sein, sagt Zheng, dass Frauen, die vor weniger als 20 Jahren begannen, ihr graues Haar regelmäßig in Kupferrot oder Blauschwarz zu tauchen, und die laut Statistik kein erhöhtes Krebsrisiko aufweisen, sich in Wahrheit nur in einer Art Latenzphase befinden: Die Krebsgefahr lauert noch.
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RH,
07.03.2004, 11:09
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