WHO: Systematische Review zu männlicher Fertilität erschienen (Forschung)
Die Arbeitsgruppe um Eugenia Cordelli hat ihre im Auftrag der WHO erstellte systematische Review zur Auswirkung von HF-EMF auf die Fruchtbarkeit von Männern veröffentlicht. Die Wissenschaftler bestätigen Alarmmeldungen organisierter Mobilfunkgegner nicht, geben allerdings auch keine uneingeschränkte Entwarnung. Sie fordern weitere und vor allem gezieltere Forschung.
Die Review der AG Cordelli hat den Titel "Effects of Radiofrequency Electromagnetic Field (RF-EMF) exposure on male fertility: A systematic review of experimental studies on non-human mammals and human sperm in vitro", umfasst 113 Seiten (Volltext) und ist wie alle von der WHO bestellten HF-EMF-Reviews online in einer Sonderausgabe des Journals Environment International erschienen.
Hier die Ergebnisse (auf Deutsch), wie sie von den Autoren im Abstract beschrieben werden:
117 Arbeiten über Tierstudien und zehn Arbeiten über in vitro exponierte menschliche Spermien wurden in diese Überprüfung einbezogen. Nur wenige Studien wurden als "wenig besorgniserregend" eingestuft, da die meisten Studien für die Bewertung der Exposition und/oder der Ergebnisse auf der RoB-Ebene [Risk-of-Bias, Anm. Postingautor] lagen. Die Unterteilung der Tierversuchsstudien nach Tierart, SAR-Wert und Temperaturanstieg konnte die Heterogenität der einzelnen Studien in etwa einem Drittel der Meta-Analysen teilweise erklären. Doch in keinem Fall war es möglich, eine Subgruppenanalyse der wenigen In-vitro-Studien mit menschlichen Spermien durchzuführen, da es immer eine oder mehrere Gruppen mit weniger als drei Studien gab.
Bei allen betrachteten Endpunkten ergaben die Meta-Analysen der Tierstudien Hinweise auf schädliche Wirkungen der HF-EMF-Exposition, mit Ausnahme der Rate der unfruchtbaren Männchen und der Größe der gezeugten Würfe. Die Bewertung der Aussagesicherheit gemäß der "Grade"-Methode [Grading of Recommendations, Assessment, Development and Evaluation] wies der Verringerung der Schwangerschaftsrate und dem Nachweis keiner Auswirkung auf die Wurfgröße eine moderate Sicherheit zu, der Verringerung der Spermienzahl eine geringe Sicherheit und allen anderen Ergebnissen der Meta-Analyse eine sehr geringe Sicherheit. Studien an menschlichen Spermien, die in vitro exponiert wurden, zeigten eine geringe schädliche Wirkung der HF-EMF-Exposition auf die Vitalität und keine Wirkung auf DNA/Chromatin-Veränderungen. "Grade" gemäß wurde diesen Ergebnissen eine sehr geringe Sicherheit zugeschrieben. Die wenigen Studien, die EMP-Exposition verwendeten [EMP: gepulste HF-EMF], zeigten keine Auswirkungen auf die Ergebnisse. Diesen Ergebnissen wurde eine geringe bis sehr geringe Sicherheit zugeschrieben.
Diskussion
Viele der untersuchten Studien litten unter schwerwiegenden Einschränkungen, die dazu führen, dass die Ergebnisse der Meta-Analysen mit Unsicherheit behaftet sind und es nicht möglich ist, eindeutige Schlussfolgerungen zu den meisten Endpunkten zu ziehen. Nichtsdestotrotz sind die Assoziationen zwischen HF-EMF-Exposition und der Abnahme der Schwangerschaftsrate und der Spermienzahl, denen mäßige und geringe Sicherheit zugeschrieben wurde, nicht zu vernachlässigen. Auch in Anbetracht der Hinweise darauf, dass in den westlichen Ländern das männliche Fruchtbarkeitspotenzial allmählich abzunehmen scheint. Es lag jedoch außerhalb des Rahmens unserer systematischen Überprüfung, die Beschaffenheit der Dosis-Wirkung-Beziehung zu bestimmen oder eine minimale effektive Expositionsstärke zu ermitteln.
Die Untergruppen- und Dosis-Wirkung-Analysen zeigten keine konsistente Beziehung zwischen den Expositionsniveaus und den beobachteten Wirkungen. Bemerkenswert ist, dass in den meisten Studien HF-EMF-Expositionsniveaus untersucht wurden, die höher sind als die Niveaus, denen die Bevölkerung typischerweise ausgesetzt ist, und die höher sind als die in internationalen Richtlinien festgelegten Grenzwerte. Aus diesen Gründen können wir keine Vorschläge zur Bestätigung oder Überprüfung der derzeitigen Expositionsgrenzwerte für Menschen machen. In Anbetracht der Ergebnisse dieser systematischen Übersichtsarbeit und unter Berücksichtigung der Einschränkungen, die in mehreren Studien festgestellt wurden, schlagen wir vor, dass weitere Untersuchungen mit einer besseren Charakterisierung der Exposition und Dosimetrie, einschließlich mehrerer Expositionsniveaus und verblindeter Ergebnisbewertung, durchgeführt werden.
Soweit der kundige aber vorsichtige Befund der wissenschaftlichen AG Cordelli.
Zum Vergleich Risikobewertung durch Diagnose-Funk
Für organisierte Mobilfunkgegner wie den Verein Diagnose-Funk ist die Schadwirkung von HF-EMF auf die Fruchtbarkeit von Männern schon seit 2016 so gut wie erwiesen. Der Verein schreibt:
Im neuen diagnose:funk Brennpunkt "Smartphones & Tablets schädigen Hoden, Spermien und Embryos" wird die brisante Studienlage erstmals für die Öffentlichkeit dokumentiert. 130 Studien und 13 Reviews weisen nach, dass die gepulste Mikrowellenstrahlung die männlichen [also nicht die weiblichen ] Spermien und die gesunde Entwicklung des Embryos gefährdet. Auf fast keinem Gebiet sind die Ergebnisse der Mobilfunkforschung so umfangreich und eindeutig wie zur Schädigung der Reproduktionsorgane.
Zur Bekräftigung seiner Behauptungen brachte der Verein Beifallsbekundungen von Ärzten. Dabei handelt es sich jedoch nicht um zufällig ausgewählte Ärzte, sondern ausschließlich um solche, die Diagnose-Funk nahe stehen und z.B. die Behandlung von überzeugten Elektrosensiblen anbieten.
Die zugehörige sogenannte Presse-Mitteilung des Vereins lässt sich hier einsehen.
Kompetenzgefälle
Wie ist die konträre Risikobewertung der AG Cordelli und des Vereins zu erklären?
Die einfachste Erklärung lautet: Cordelli et al. sind Wissenschaftler vom Fach, das Personal von Dignose-Funk sind selbstgewisse Laien, die sich für Wissenschaftler halten. Beifallsbekundungen von niedergelassenen Ärzten zugunsten von Diagnose-Funk ändern aus gutem Grund an diesem Kompetenzgefälle nichts.
Auch Laien können Studien lesen und versuchen, die Ergebnisse zu deuten. Das ist die Vorgehensweise von Diagnose-Funk. Wie mehrfach hier im Forum angesprochen scheitert der Verein jedoch regelmäßig daran, dass er die Qualität von Studien unberücksichtigt lässt, weil ihm die dazu erforderliche Kompetenz fehlt oder die Lust am Alarmieren größer ist als die Skrupel, aus einer ersichtlich minderwertigen alarmierenden Studie Kapital zu schlagen. Dies führt zu der kuriosen Situation, dass Mobilfunkgegner gar nicht anders können, als alarmieren.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –