Wir üben Desinformieren (12): An Funk erblindete Zugvögel (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 14.05.2023, 16:48 (vor 372 Tagen)

Das Kolportieren von Medienberichten, welche nahtlos in das eigene irrationale Überzeugungssystem passen, gehört zum Brot-und-Butter-Geschäft emsiger Desinformanten. Die Berichte werden nicht hinterfragt, Fehler bleiben unbemerkt. Bequemes Copy-Paste ist schnell erledigt und der Desinformant kann seinem Kerbholz zufrieden eine Kerbe hinzufügen. Wir schauen uns das mal an einem konkreten Beispiel an. Es geht um die Behauptung, GPS-Sender verursachten Augenschäden bei seltenen Zugvögeln.

Der Medienbericht zu unserem Beispiel erschien von Mobilfunkgegnern unbeachtet bereits im November 2020 im Webportal der österreichischen Gratiszeitung Heute. Erst nachdem im April 2023 ein deutscher Augenarzt behauptet, intensiv gebrauchte Smartphones könnten Grauen Star verursachen, erbeutet eine nach Bestätigung googelnde "Elektrosensible" aus München den alten Bericht und stellt einen Auszug im Mai 2023 in ein Schweizer Anti-Mobilfunk-Forum ein:

Augenschäden bei Vögeln durch GPS-Sender

Ein lesenswerter Artikel. Immer wieder wird Funkstrahlung mit Grauem Star beim Menschen in Zusammenhang gebracht und natürlich beiseite geschoben.

"Dutzende gefährdete Vögel eines Auswilderungsprogrammes sind von mysteriösen Augenschäden betroffen. Jetzt haben Forscher die Ursache gefunden."

"Sender schädigte Augen
Nach Einschätzung des Projektleiters Johannes Fritz sollen nämlich die GPS-Empfänger samt GSM-Sendemodul, die auf dem Rücken der Waldrappe zur Überwachung ihres Flugverhaltens montiert waren die Linsentrübungen ausgelöst haben. Der Grund dafür sei, dass die Ibis-Vögel zum Schlafen ihren Kopf auf den Rücken legen und damit dem Sender sehr nahe kamen." [...]


An dieser Kolportage gibt trotz ihrer Kürze eine ganze Menge auszusetzen:

► Die Behauptung, immer wieder werde Funkstrahlung mit Grauem Star beim Menschen in Zusammenhang gebracht, ist Wunschdenken der Kolporteurin. Das Thema war bereits vor rd. 20 Jahren ausgeforscht und ruht seither. Künftig könnte es noch einmal hochkochen, da mit der Erschließung höherer Frequenzbereiche über 20 GHz für den Massenfunk die gebündelte Kurzstreckenabstrahlung hoher Leistung technisch einfach zu realisieren ist und daher das Risiko neu bewertet werden muss.

► Augenschäden bei Vögeln durch GPS-Sender könnte es nur dann geben, würden Vögel rd. 20'000 km über dem Erdboden mit etwa 14'000 km/h fliegen. Dann kämen sie den Satelliten des Global Positioning Systems (GPS) nahe und nur dort gibt es GPS-Sender. Auf dem Erdboden gibt es allein völlig strahlungsfreie GPS-Empfänger, die uns durch Auswertung der GPS-Signale den Weg weisen. Das hätte auch die Redaktion von Heute und die Kolporteurin wissen können.

► "Sender schädigen Augen" ist eine Tatsachenbehauptung der Heute-Redaktion. Doch schon im nächsten Satz schrumpft diese auf eine "Einschätzung" des Projektleiters zusammen, also auf eine Meinung. Dieser eklatante Widerspruch im Text der Boulevardjournalisten tangiert unsere "Elektrosensible" in keiner Weise.

► Im weiteren Verlauf des Textfragments wird aus dem GPS-Sender plötzlich ein GPS-Empfänger samt GSM-Sendemodul. Anscheinend hat den Text ein Volontär verfasst, der erst Stunden zuvor bei Heute angefangen hat. Unsere "Elektrosensible" nimmt auch diesen Widerspruch ungerührt hin.

► Können Ibis-Vögel zum Schlafen ihren Kopf wirklich abschrauben und auf den eigenen Rücken legen? Eher nicht. Wahrscheinlich ist gemeint, die Vögel stecken ihren Kopf zum Schlafen ins Gefieder am Rücken.

► Unklar ist, ob die Kolporteurin überhaupt bemerkt hat, dass ihr Beutestück vom November 2020 nicht gerade taufrisch ist. In den seither vergangenen 2½ Jahren könnten sich schließlich gut und gerne neue Erkenntnisse über die Linsentrübung der Waldrappen eingestellt haben. Doch unsere "Elektrosensible" ist mit ihrer alarmierenden Beute hoch zufrieden, sie hat kein Interesse der Sache auf den Grund zu gehen. Dabei könnte etwas hoch gespült werden, was ihrem alarmierenden Posting die Show stiehlt.

[image]Weil die Kolporteurin keine Lust zu weiterführenden Recherchen hatte, habe ich das für sie übernommen. Dabei stellte sich heraus, anstelle des Artikels in einer Boulevardzeitung hätte es auch eine ernst zu nehmende wissenschaftliche Veröffentlichung der Arbeitsgruppe um Projektleiter Johannes Fritz gegeben. Diese erschien im Oktober 2020 unter dem Titel Biologging is suspect to cause corneal opacity in two populations of wild living Northern Bald Ibises (Volltext). Die Publikation bestätigt zweifelsfrei, dass es keine erwiesene Tatsache ist, sondern ein plausibler Verdacht der Wissenschaftler, die Linsentrübung der Vögel könne mit der EMF-Immission durch das GSM-Sendemodul am Rücken der Tiere zusammenhängen (Bild). Alternativ erwägen die Wissenschaftler, die Hornhaut des betroffenen Auges habe am Gehäuse des Sendemoduls mechanisch gerieben und dadurch Schaden genommen. Leider nennt die Publikation keine Details zu dem GSM-Sendemodul insbesondere nicht zur Charakteristik (Stärke, Dauer) der HF-EMF-Emission.

Da seit Publikation der Studie viel Wasser die Isar herunter geflossen ist, fragte ich bei Johannes Fritz nach, ob sich der EMF-Verdacht inzwischen erhärtet hätte. Er antwortete, neue Erkenntnisse gäbe es bislang leider nicht. Seine Arbeitsgruppe habe vor, die Kausalität des Phänomens mit einer Doktorarbeit näher erforschen zu lassen, doch dazu sei es noch nicht gekommen. Die Annahme eines Zusammenhangs zwischen der Linsentrübung und einer Nahwirkung von elektromagnetischer Strahlung sei deshalb noch rein hypothetisch. Allerdings gäbe es eine Studie, in der isolierte Linsen von Eintagsküken bestrahlt wurden und Phänomene zeigten, die jenen bei den Waldrappen sehr ähneln. Fritz wertet diese Studie als Hinweis. Bei seinen Waldrappen gäbe es zum Glück seit Jahren keine Linsentrübungen mehr, konkret seitdem sämtliche Sender von der prekären Position am oberen Rücken der Vögel entfernt wurden.

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– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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