Widerstand gegen 5G: Wie die Wissenschaft überrumpelt wurde (Forschung)
Neue Mobilfunkstandards kamen und gingen, doch keiner wurde anfangs so hingebungsvoll bekämpft wie 5G. Warum ausgerechnet 5G? Der Widerstand entzündete sich hauptsächlich an den angeblich unerforschten höheren Trägerfrequenzen, die mit 5G einhergingen. Doch in der EU hat das bislang höchste 5G-Pionierband für öffentlichen Mobilfunk bei nur 3,6 GHz Platz genommen, weit unter den 5 GHz von seit Jahren gängigen W-Lan-Routern. Das kann es also nicht gewesen sein. Der Wissenschaftler Frank de Vocht hat tatsächlich einen ganz anderen Grund für die 5G-Hysterie ausgemacht.
Weltweit wurden 2019 die ersten 5G-Lizenzen versteigert, im selben Jahr erreichte 5G bescheidene 12,7 Mio. Teilnehmer, 2028 sollen es rd. 5 Mrd. sein. Erste Proteste gab es jedoch schon ab 2017. Hardell und Nyberg starteten einen Wissenschaftlerappell gegen 5G und in der Schweiz begann ein Ex-Elektriker mit katastrophalen Fehlinterpretationen erbeuteter technischer Unterlagen die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. 2018 sprang der US-Amerikaner Arthur Firstenberg auf den Zug auf (Space 5G Appeal) und schürte weltweit irrationale Ängste vor 5G. Ab 2020 wurde es bizarr, Berufsdesinformanten verbreiteten massenweise Falschmeldungen, etwa die Behauptung, das Corona-Virus verbreite sich über 5G-Funkkanäle. Die Folge waren vermehrt Brandanschläge auf 5G-Funkmasten.
Die Spur führt in den Elfenbeinturm
Auf die Frage, warum dies alles geschah, gab es bislang nur spekulative Antworten, da es über die Hintergründe der weltweiten 5G-Hysterie keine belastbaren Informationen gab. Doch jetzt ist dieser Informationsmangel ein gutes Stück kleiner geworden, denn der Epidemiologe Frank de Vocht (University of Bristol) hatte den Einfall, sich die wissenschaftliche Risikoliteratur in den Anfangsjahren von 5G einmal genauer anzusehen und zu prüfen, wer die wissenschaftliche Gemeinschaft mit was für Ergebnissen gefüttert hat. Das Ergebnis ist seine Studie "The population health effects from 5G: Controlling the narrative", die er mit Co-Autorin Patricia Albers am 19. Dezember 2022 in dem Fachjournal Frontiers in Public Health publiziert hat (Volltext).
Methode
Die beiden Autoren suchten in mehreren wissenschaftlichen Publikationsdatenbanken nach begutachteten Reviews, Kommentaren und Meinungsartikeln in englischer Sprache, die 5G mit Gesundheitsrisiken in Verbindung bringen. Sie gingen davon aus, dass derartige Publikationen einen Überblick auf die Evidenz bieten und/oder die wissenschaftliche Debatte anstoßen, vorantreiben oder lenken. Die gefundenen Artikel wurden nach Monat und Jahr der Online-Veröffentlichung geordnet und der Auswertungszeitraum auf drei Jahre nach der ersten Publikation begrenzt. Daraus resultierten 15 Artikel, die im Zeitfenster von Februar 2018 bis Juni 2021 erschienen sind. Mit der Etikettierung "Independent", "Industry" oder "Activism" (Mobilfunkkritiker) wurden alle Artikel kategorisiert, je nachdem, ob die Autoren nur untereinander in Verbindung standen, oder sich ihnen Interessenkonflikte zur Industrie oder zu den Kampagnenorganisationen von Mobilfunkkritikern nachweisen ließen. Nannten Autoren in ihren Artikeln keinen Interessenkonflikt (CoI), wurde eine Internetsuche durchgeführt, um nicht gemeldete Verbindungen zu identifizieren. Weiterhin wurde nach der Finanzierung der Studienautoren geschaut, die Methodik einer gebotenen Evidenzbeurteilung in drei Qualitätsstufen eingeordnet, geprüft, ob die Autoren bei Reviews die Qualität der einbezogenen Studien beurteilten (Yes oder No), ob sie 5G mit Gesundheitsrisiken oder biologischen Risiken in Verbindung brachten oder nicht (+ oder –) und zuletzt, ob die Autoren Empfehlungen für die Politik gaben (Yes oder No). Die Befunde für alle 15 untersuchten Arbeiten wurden übersichtlich in einer Tabelle zusammengefasst.
Die Tabelle ist zwar in Englisch aber dennoch leicht zu verstehen. Am Fuß der Tabelle werden zu einigen Spaltenköpfen Erklärungen gegeben. (Quelle: Frontiers in Public Health, Volume 10 - 2022)
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Interpretation der Ergebnisse
Frank de Vocht und Patricia Albers interpretieren die Tabelle zusammenfassend so, dass die Diskussion über 5G als erhebliches Risiko für die Gesundheit von Menschen in der Peer-Review-geprüften Literatur zunächst weitgehend von den Autoren geführt wurde, die Kampagnenorganisationen betreiben oder damit in Verbindung stehen. Diese Veröffentlichungen waren unmittelbar mit Aufrufen zu einem Moratorium für 5G verbunden. Kommentare und Leserbriefe sind persönliche Meinungen und basieren nur selten auf einer methodischen Bewertung der Beweise, doch das alarmierende Narrativ (hier: interessengesteuerte Darstellung eines Sachverhalts; Volksglaube) der frühen Studien stützt sich größtenteils auf Reviews von geringerer methodischer Qualität im Vergleich zu den später veröffentlichten Reviews von unabhängigen Forschern und Forschern mit Verbindungen zur Industrie. Es ist daher wahrscheinlich, dass Berichte in den populären Medien stärker von den anfänglichen Veröffentlichungen der Interessengruppen "Independent" und "Activism" beeinflusst wurden als von den späteren Arbeiten höherer Qualität. Wichtig ist, dass es (noch) keine eindeutige Antwort auf die Frage gibt, ob das daraus resultierende Narrativ in der von Experten begutachteten Literatur eine Überschätzung der Risiken als Folge der frühen Artikel mit Verbindungen zu Kampagnenorganisationen widerspiegelt, ob spätere Artikel von Autoren mit Verbindungen zur Industrie und vermutlich die Artikel der meisten unabhängigen Autoren in der letzten Phase des betrachteten Zeitfensters eine Unterschätzung der wahren kausalen Zusammenhänge widerspiegeln oder ob erst eine kombinierte Bewertung von beidem eine künftige Evidenzsynthese näher an "die Wahrheit" heranführen wird. Hinlänglich bekannt ist jedoch, fehlt bei einer Evidenzsynthese die explizite Bewertung der Qualität einbezogener Studien, was bei den unter "Aktivism" eingestuften Publikationen am auffälligsten war, sind solche Reviews anfälliger für verzerrte Schlussfolgerungen. Zusätzlich zu den Problemen im Zusammenhang mit der Bestimmung des Narrativs und den Auswirkungen von "positiver Verzerrung" (Autoren stellen Ergebnisse positiver dar als sie faktisch sind) werden in der aktuellen Arbeit auch nicht offengelegte immaterielle Interessenkonflikte beschrieben, die wahrscheinlich die Interpretation der Evidenz beeinflusst haben. Auch dies wurde insbesondere bei Publikationen beobachtet, die mit Kampagnenorganisationen in Verbindung stehen. Das Narrativ um 5G und mögliche Auswirkungen auf die Gesundheit sollte vor diesem Hintergrund interpretiert werden, insbesondere weil einige der Autoren mit Verbindungen zu Kampagnenorganisationen (Hardell, Héroux, Miller und Moskowitz) sowie andere, die Studien nach dem beobachteten 3-Jahre-Zeitraum veröffentlicht haben, sich kürzlich formell in der neuen Interessengruppe ICBE-EMF zusammengeschlossen haben.
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –