Schweiz: Mobilfunkantennen strahlen zu stark – Fake oder wahr? (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Donnerstag, 17.02.2022, 20:44 (vor 1008 Tagen)

Das Schweizer Verbrauchermagazin K-Tipp sorgte mit seiner Ausgabe 17 im Oktober 2021 für eine Stichflamme in der Medienlandschaft des Alpenstaats. Denn gemäß K-Tipp überschreiten viele Mobilfunkantennen der Eidgenossenschaft die zulässigen Strahlungswerte, wenn sie ans Netz gehen. Seit 2018 musste deshalb bei mehr als 250 Antennen die Emission reduziert werden. Dies zeigen Messdaten aus 16 Kantonen, die von K-Tipp ausgewertet wurden. Ein parlamentarisches Nachspiel brachte im Februar 2022 Klärung, was an dieser Alarm-Story wirklich dran ist.

Mit der Interpellation 21.4438 griff die grünliberale Nationalrätin Katja Christ die alarmierende Medienmeldung am 15. Dezember 2021 auf und stellte der Schweizer Regierung (Bundesrat) 8 Fragen. Der einführende Begleittext lautet:

Ein Artikel im auflagenstärksten Konsumentenmagazin der Deutschschweiz (K-Tipp) ist am 20. Oktober 2021 der Frage nachgegangen, inwieweit die Schweizerischen Mobilfunkbetreiber die Grenzwerte einhalten. Dabei stützt sich der Artikel auf Messungen, welche die Kantone bei allen neuen Antennen binnen drei Monaten durchführen lassen. Der Artikel erweckt den Eindruck, dass bis zu einem Viertel aller Handyantennen in der Schweiz zu stark strahlen und die Behörden dem tatenlos zusehen. Der Artikel hat bei Teilen der Bevölkerung namentlich im Zusammenhang mit der Errichtung von 5G-Antennen zu Verunsicherung geführt. In einigen Kantonen sind bereits entsprechende Forderungen an die Behörden gerichtet worden, zum Artikel Stellung zu beziehen.

Die Einhaltung der Grenzwerte von Handyantennen durch Betreiber - gerade auch im Zusammenhang mit 5G - ist ein sensitives und wichtiges Thema. Die Bevölkerung muss sich darauf verlassen können, dass die Behörden ihre Aufsichtspflicht vollumfänglich wahrnehmen.

Ich bitte den Bundesrat daher, folgende Fragen zu beantworten:

Die Fragen beantwortete der Bundesrat am 16. Februar 2022. Der besseren Übersicht wegen haben wir Fragen und Antworten zusammengefügt.

1. Sind Messungen bei Handyantennen vorgeschrieben? Wenn Ja, in welchen Fällen und wenn nein, warum nicht?

Wird eine neue Mobilfunkanlage erstellt oder eine bestehende ausgebaut, muss im Voraus die zu erwartende Strahlung in der Umgebung der Anlage berechnet werden. So wird geprüft, ob die Grenzwerte der Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (NISV; SR 814.719) eingehalten sind. Zeigen die Berechnungen, dass der vorsorgliche Anlagegrenzwert der NISV an Orten wie Wohnungen, Schulen, Spitälern oder Kinderspielplätzen beinahe erreicht wird (Ausschöpfung von mehr als 80 Prozent), verfügen die Behörden eine Abnahmemessung nach Inbetriebnahme der neuen oder umgebauten Anlage.


2. Wer hat das Verfahren/die Messregeln festgelegt und wer ist für die Durchführung/die Kontrolle verantwortlich? Hat der Bund hier die Oberaufsicht und wenn ja, wie übt er diese aus? Wenn nein, wer hat die Oberaufsicht?

Zur Kontrolle der Einhaltung des Anlagegrenzwertes empfiehlt das Bundesamt für Umwelt (BAFU) geeignete Berechnungs- und Messmethoden - letzteres zusammen mit dem Eidgenössischen Institut für Metrologie METAS. Für die Kontrolle und Bewilligung von Mobilfunkanlagen sind die Kantone oder Gemeinden zuständig. Die Oberaufsicht über den Vollzug liegt beim BAFU. Zu diesem Zweck steht es im stetigen Austausch mit den zuständigen Fachstellen der Kantone, so zum Beispiel in einer Arbeitsgruppe der Vereinigung der Vollzugstellen für Luftreinhaltung und nichtionisierende Strahlung (Cercl'Air). Das BAFU hat keine Hinweise, dass der Vollzug der NISV durch die Kantone Mängel aufweisen würde.


3. Wer beauftragt solche Messungen? Ist die Messmethodik in der ganzen Schweiz vorgeschrieben? Wenn ja, von wem? Wenn nein, warum nicht? Welches sind die Voraussetzungen, dass man solche Messungen durchführen darf?

Die Messungen werden von der Bewilligungsbehörde (Gemeinde oder Kanton) verfügt. Sie sind anhand der Vollzugshilfen (Messempfehlungen von BAFU und METAS für die Mobilfunkstandards GSM und UMTS und technische Berichte des METAS für die Mobilfunkstandards LTE und 5G) von akkreditierten Messfirmen durchzuführen.


4. Wer hat im 2021 Messungen durchgeführt und wieviel waren es insgesamt? Falls diese Daten nicht vorliegen, wie wird die Oberaufsicht ausgeübt?

Die Messungen wurden von akkreditierten Messfirmen auf Anordnung der Bewilligungsbehörden (Gemeinde oder Kanton) durchgeführt. Eine Übersicht über die Anzahl Messungen liegt dem Bundesrat nicht vor.


5. Wird die Einhaltung der Grenzwerte nach der Messung kontrolliert? Wenn Ja, wie und durch wen wird diese kontrolliert, wenn nein, warum nicht?

Zur Kontrolle während des laufenden Betriebs haben die Mobilfunkbetreiber auf ihren Netzzentralen Qualitätssicherungssysteme eingerichtet, welche durch unabhängige Stellen periodisch auditiert und zertifiziert werden. Bei den Systemen handelt es sich um Datenbanken, welche für jede Antenne regelmässig die im Betrieb verwendeten Parameter wie die Senderichtung oder die maximale Sendeleistung mit den bewilligten Parametern vergleichen. Abweichungen vom bewilligten Betrieb müssen innert 24 Stunden behoben werden, sofern dies durch Fernsteuerung möglich ist, andernfalls innerhalb einer Arbeitswoche. Die Kantone können Stichprobenkontrollen durchführen.


6. Werden die Grenzwerte beim Regel-Betrieb der Handyantennen tatsächlich regelmässig nicht eingehalten? Wenn Ja, in wievielen Fällen ist dies der Fall?

Wenn bei Abnahmemessungen nach der Inbetriebnahme Überschreitungen des Grenzwerts festgestellt werden, muss die Sendeleistung reduziert werden. Werden in den Qualitätssicherungssystemen Abweichungen vom bewilligten Betrieb festgestellt, müssen diese innert kurzer Frist korrigiert werden. Somit werden die Grenzwerte im regulären Betrieb eingehalten. Eine statistische Auswertung der Kantone liegt dem Bundesrat nicht vor.


7. Wie viele Handyantennen gibt es derzeit in der Schweiz? Wie viele (in %) halten die Grenzwerte sicher ein?

In der Schweiz gibt es rund 23'000 Antennenstandorte (Stand Dezember 2021). Rund 30 Prozent der Anlagen weisen eine sehr kleine Sendeleistung von unter 6 Watt (ERP) auf; diese Anlagen unterliegen nicht den Vorsorgegrenzwerten der NISV. Etwa 70 Prozent der Anlagen weisen eine höhere Sendeleistung von über 6 Watt (ERP) auf. Bei jeder Mobilfunkanlage mit einer Sendeleistung über 6 W (ERP) wird die Einhaltung der Grenzwerte kontrolliert. Der Bund verfügt über keine Statistik zur Einhaltung der Grenzwerte, hat allerdings auch keinen Hinweis dafür, dass die Anlagen grossflächig die Grenzwerte nicht einhalten, abgesehen von allfälligen kurzfristigen Fehlern, die im Betrieb auftreten können, wenn an der Anlage etwas verändert wird. Solche Fehler werden jedoch von den Qualitätssicherungssystemen erfasst und müssen innert kurzer Frist behoben werden.


8. Ist der Bundesrat der Ansicht, dass die Feststellungen im genannten Artikel des K-Tipp richtig sind oder nicht? Falls ja, welche Konsequenzen zieht er daraus, falls nein, welche Konsequenzen hat die Falschberichterstattung?

Die im K-Tipp-Artikel festgestellten Abweichungen sind keine Verstösse gegen die Grenzwerte, sondern es handelt sich um die Ergebnisse von Abnahmemessungen. Diese sind Teil der ordentlichen Beurteilung und Überprüfung der Strahlung einer Mobilfunkanlage, die im Rahmen des Bewilligungsverfahrens durchgeführt werden. Wenn Abnahmemessungen zeigen, dass eine Anlage den Grenzwert noch nicht einhält, müssen die Sendeparameter für den regulären Betrieb angepasst werden. Dies geschieht in den meisten Fällen durch eine Reduktion der Sendeleistung.

Kommentar: Aus meiner Sicht hat sich der Bundesrat bei Frage 8 unter Wert verkauft, indem er nicht zwischen Anlage- und Immissionsgrenzwerten differenziert hat. Heißt im Klartext: Bedeutsam sind die vermeintlich unzumutbar riskanten Grenzwertüberschreitungen nur dort, wo Funkmasten Menschen nahe kommen und deshalb die tiefen Schweizer Anlagegrenzwerte gelten (1/10 der Gefährdungsgrenzwerte bezogen auf die elektrische Feldstärke). Die Anlagegrenzwerte aber sind keine Gefährungsgrenzwerte, sondern Vorsorgewerte. Eine maximal drei Monate dauernde Überschreitung der Anlagegrenzwerte bedeutet deshalb nur eine gewisse Reduzierung der Dicke des Vorsorgepolsters, auf keinen Fall aber eine Gefährdung der Bevölkerung!

Erst so wird mMn verständlich, warum bis zur Abnahmemessung überhaupt bis zu drei Monate verstreichen dürfen, eben weil selbst im Fall einer unerkannten Überschreitung der Anlagegrenzwerte daraus kein Risiko für die Bevölkerung abzuleiten ist. Sollte der K-Tipp-Artikel diesen Sachverhalt verschwiegen haben, ist der Artikel mMn gezielte Desinformation zu dem Zweck, das Vertrauen der Eidgenossenschaft in ihre staatlichen Institutionen zu untergraben. Mein Misstrauen gegen K-Tipp beruht auf schlechten Erfahrungen mit dessen Schwesterzeitschrift Gesundheitstipp (Beispiel).

Wie die Anti-Mobilfunk-Szene den K-Tipp-Artikel für fachlich unqualifizierte Hetze gegen 5G-Funkantennen verwurstet, kann man gut am Beispiel des Zürcher Vereins Schutz vor Strahlung studieren. Auch der deutsche Krawall-Verein Diagnose-Funk verschweigt ungeniert, dass aus der befristeten und begrenzten Überschreitung von Vorsorgewerten kein nennenswerter Risikozuwachs für die Bevölkerung resultiert.

Von einer Ausnahme abgesehen (rd. 24 V/m) bewegen sich die von K-Tipp festgestellten Überschreitungen des Anlagegrenzwerts 5 V/m alle im Bereich 5 V/m bis rd. 11 V/m. Die Schweizer Immissionsgrenzwerte für öffentlichen Mobilfunk liegen je nach Frequenz zwischen 39 V/m und 61 V/m. Doch eine Gefährdung beginnt selbst dort noch nicht, denn den Immissionsgrenzwerten liegt (bezogen auf die Feldstärke) ein Schutzfaktor von 7 zugrunde. Mit wissenschaftlich nachgewiesenen Gesundheitsauswirkungen ist deshalb erst ab Werten über 273 V/m zu rechnen. Was sind da schon 24 V/m?

Meine Antwort auf die im Postingtitel gestellte Frage "Fake oder wahr?" lautet deshalb in Bezug auf eine Gefährdung der Bevölkerung: Fake, was sonst! Wenn es in den Jagdrevieren von Populisten keine Elefanten mehr zu erlegen gibt, müssen ersatzweise eben Mücken geschossen werden.

Hintergrund
K-Tipp Artikel (hinter Bezahlschranke) Handy-Antennen: Jede fünfte strahlt zu stark
Auszüge (gratis) aus dem K-Tipp-Artikel Jede 5. Handyantenne strahlt zu stark
Gibt es in der Schweiz die rechtlich geduldete Grenzwertüberschreitung?
Magazin Gesundheitstipp: Kritiken im IZgMF-Forum
Magazin K-Tipp: Kritiken im IZgMF-Forum

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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