Blut-Hirn-Schranke: abschwellender Schwanengesang (Allgemein)
Dem Schweden Leif Salford gelang es 2003 mit einer wissenschaftlichen Studie über die Öffnung der Blut-Hirn-Schranke kurzzeitig zum Star der deutschen Anti-Mobilfunk-Szene aufzusteigen. Diagnose-Funk würdigt den inzwischen 80-Jährigen mit einem rosaroten Rückblick auf sein Schaffen und kann der Versuchung nicht widerstehen, rückwirkend mit der Aufdeckung einer angeblich schändlichen Missetat der Ende 2009 aufgelösten Forschungsgemeinschaft Funk (FGF) zu prahlen.
Am 7. Dezember 2021 wurde der schwedische Wissenschaftler Leif Salford 80 Jahre alt. Aus diesem Anlass gibt Louis Slesin auf Microwave News einen subjektiven Rückblick auf die Forschung des alten Schweden. Salford hatte kurz nach Start des GSM-Mobilfunks in Europa damit begonnen, den Einfluss von GSM900-Funkfeldern in Hinblick auf das Wachstum von Hirntumoren und auf die Funktionsfähigkeit der Blut-Hirn-Schranke (BHS) zu untersuchen. Seine Forschung an Hirntumoren brachte keine aufregenden Ergebnisse hervor. Ganz anders seine BHS-Forschung. Bereits 1993 berichtete Salford in einer der ersten Veröffentlichungen, unter gepulster und ungepulster 915-MHz-Exposition werde die BHS durchlässig.
Da das Internet seinerzeit noch in den Kinderschuhen steckte, blieb der Anti-Mobilfunk-Szene dieses Ergebnis weitgehend verborgen. Hierzulande änderte sich dies erst, als der in seiner Selbstsicht "elektrosensible" Physiker Volker Schorpp eine Folgestudie Salfords ins Deutsche übersetzte und im Februar 2003 auf der Website des hese-Projekts publizierte. Ab diesem Moment war Salford für deutsche Mobilfunkgegner vorübergehend die Lichtfigur schlechthin, bis ihm Franz Adlkofer mit seinem "Reflex"-Projekt diesen Rang ablief. Das Thema BHS geriet in den Folgejahren wissenschaftlich unter die Räder, nachdem andere Forschergruppen die Befunde Salfords nicht bestätigen konnten und Salford selbst 2007 an einer Wiederholungsstudie scheiterte.
Diagnose-Funk, stets an alarmierenden Geschichten über Mobilfunk interessiert, erhielt von Slesin die Erlaubnis, seinen Rückblick auf Salfords Wirken in der EMF-Risikoforschung ins Deutsche zu übersetzen. Was dabei heraus kam ist noch tendenziöser als das Original, wovon man sich hier selbst überzeugen kann.
Wer sich den Roman ersparen möchte und stattdessen an einer objektiv-sachlichen Einschätzung einer sich unter EMF-Einwirkung öffnenden BHS interessiert ist, dem hilft das EMF-Portal kurz und schmerzlos auf die Sprünge.
Randnotiz
Im Anhang zur Übersetzung des Slesin-Artikels versucht Diagnose-Funk sich mit einem Kunstgriff in Szene zu setzen und behauptet:
Diagnose:funk deckte vor 15 Jahren die Verfälschungen der Ergebnisse der Salford-Studie durch die FGF (Forschungsgemeinschaft Funk) und das Bundesamt für Strahlenschutz auf!
Das ist lustig, denn vor 15 Jahren konnte Diagnose-Funk nichts aufdecken, weil es diesen Verein damals noch gar nicht gab, sein Eintrag im Vereinsregister weist den 1. Juni 2010 als sein Geburtsdatum aus. Die Schweizer Mutter des deutschen Vereins ist zwar älter, hat mit dem besagten Vorgang allerdings nichts zu tun. Denn der Aufdecker der angeblichen Verfälschung ist der Stuttgarter Peter Hensinger, der 2006 der Anti-Mobilfunk-Szene beitrat, weil ihn ein Funkmast störte, den er von seinem Schlafzimmer aus sehen konnte.
Lässt man das Brimborium weg, schmilzt die "Verfälschung" der Salford-Studienresultate im Diagnose-Funk-Beitrag auf einen einzigen Satz zusammen.
Die Forschungsgemeinschaft Funk e.V. (FGF) reagierte in ihrer Infoline auf diese Studie am 06.02.2003 und schreibt:
"Die Autoren gestanden allerdings ein, ... dass das Ergebnis keinen Anhalt für ein Risiko am Menschen bedeutet."
Diese Aussage findet sich nirgendwo in der Studie. Das pure Gegenteil sagte Salford [...]
Mein Faktencheck kann den Vorwurf der Verfälschung durch die FGF weder bestätigen noch widerlegen, zweifelsfrei sicher ist jedoch, Hensinger bläht damals wie heute eine Mücke zu einem Elefanten auf. Für diese Wertung genügt schon der erste der folgenden Punkte:
► Die "Infoline" war ein wöchentlich erschienener inoffizieller Kurznachrichtendienst der FGF, der aktuelle Begebenheiten (z.B. neue Studien, Veranstaltungshinweise ...) mit jeweils wenigen Zeilen publik machte. Offizielles Mitteilungsorgan der FGF war eine andere Publikation, nämlich der "Newsletter".
► Ohne Auslassung lautet der von Hensinger beanstandete Satz im Original: "Die Autoren gestanden allerdings ein, dass die Anzahl der Versuchstiere gering war und dass das Ergebnis keinen Anhalt für ein Risiko beim Menschen bedeutet."
► Der Infoline-Originalmeldung sind drei Quellen zugeordnet:
1) http://dx.doi.org/ doi: 10.1289/ehp.6039
2) http://www.detnews.com/
3) http://www.cellular-news.com
Quelle 1) führt zu der besagten Salford-Studie. Das gegenwärtig angezeigte PDF datiert vom Juni 2003. Darauf aber konnte die Infoline vom 6. Februar 2003 unmöglich verweisen. Anzunehmen ist, dass am Linkziel ursprünglich ein anderes Dokument war, etwa ein ungeprüfter Entwurf der Studie oder ein universitärer Forschungsbericht der Forschergruppe Salford.
Quelle 2) war für mich nicht mehr auffindbar.
Quelle 3) stützt nicht das FGF-Satzfragment "... dass das Ergebnis keinen Anhalt für ein Risiko am Menschen bedeutet."
Fazit: Es ist nicht auszuschließen, dass im Januar/Februar 2003 das beanstandete Satzfragment auf Quelle 1) oder Quelle 2) zu lesen war. Zu diesem Zeitpunkt recherchierte Peter Hensinger nicht, da er erst 2006 der Anti-Mobilfunk-Szene beitrat.
► Von Hensinger als Beleg beigebrachte mündliche Bekundungen Salfords sind ohne Belang, da Hensingers frühester Beleg vom 5. Februar 2003 datiert. Dies ist 1 Tag vor Publikationsdatum der "Infoline". Wer ein bisschen Ahnung von redaktionellen Vorlaufzeiten zur damaligen Zeit hat, weiß, dass die Infoline mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit am 5. Februar 2003 fertig vorbereitet für die Verteilung und nicht mehr im Zugriff der Redaktion war.
Damit die Randnotiz nicht noch länger wird und womöglich abermals am Ziel nur warme Luft antrifft, verzichte ich auf einen Faktencheck des Vorwurfs gegenüber dem BfS.
Hintergrund
Vorkommen des Suchbegriffs "Salford" im IZgMF-Forum
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –