Sprachverwirrung: Elektrosensibilität vs. Elektrosensitivität (Elektrosensibilität)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 06.06.2021, 23:03 (vor 1071 Tagen)

Der Volksmund unterscheidet nicht zwischen Elektrosensibilität und Elektrosensitivität, wenn überhaupt kennt er bestenfalls den Begriff Elektrosensibilität aus Verlautbarungen in einschlägigen Blättern der Boulevardpresse. Elektrosensitivität? Nie gehört! In Fachkreisen wird hingegen differenziert. Wie, das ist im EMF-Portal schön knackig beschrieben:

Elektrosensitivität (im Englischen electrosensibility) im Sinne der Wahrnehmungsfähigkeit für elektrische Vorgänge und elektromagnetische Felder schon bei einer geringeren Stärke als der Durchschnitt der Bevölkerung.

Elektrosensibilität (im Englischen electrosensitivity) oder elektromagnetische Hypersensitivität im Sinne der subjektiv empfundenen besonderen Empfindlichkeit gegenüber niederfrequenten und hochfrequenten elektromagnetischen Feldern. Dabei werden elektromagnetische Felder als Ursache für verschiedene Befindlichkeitsstörungen wie Kopfschmerzen, Schlafstörung, Konzentrationsschwäche, Müdigkeit, Schwindelgefühl oder Haut-Probleme gesehen.

Im Gegensatz zur umstrittenen Elektrosensibilität, die weltweit noch kein einziger überzeugter Elektrosensibler unter strenger wissenschaftlicher Aufsicht nachweisen konnte, ist Elektrosensitivität unumstritten, weil reproduzierbar zu messen. So drückte beispielsweise der österreichische Wissenschaftler Norbert Leitgeb seinen Probanden zwei metallische Elektroden in die Hände und jagte damit wiederholt schwache Wechselströme durch die Versuchspersonen hindurch. Dabei zeigte sich, dass die Wahrnehmbarkeitsschwelle für den Stromfluss bei einigen Probanden tiefer lag als beim Durchschnitt. Solche Personen dürfen sich mit Fug und Recht elektrosensitiv nennen.

Doch wer sich die beiden Definitionen des EMF-Portals genauer ansieht kann verblüfft feststellen, die deutschen und englischen Begriffe stimmen sinngemäß nicht übereinstimmen, sie lauten genau gegensätzlich:

Deutsch Elektrosensitivität = englisch electrosensibility
Deutsch Elektrosensibilität = englisch electrosensitivity

Als mir das vor geraumer Zeit auffiel, war ich sicher: Da muss dem EMF-Portal eine Verwechslung unterlaufen sein. Portal-Chefin Sarah Drießen aber wusste es besser. Nein, sagte sie, dies sei keine Verwechslung, im Englischen werden die beiden Begriff tatsächlich genau gegensätzlich zum Deutschen gebraucht. In Fachkreisen sei dies bekannt und würde ihrer Einschätzung nach nicht zu Verwechslungen führen.

In Fachkreisen also nicht. Einverstanden. Aber was ist mit den selbsternannten Experten von Anti-Mobilfunk-Vereinen, die von der Vertauschung nichts wissen und via www in englischsprachiger Literatur herum stochern? Ich sehe es geradezu in 3D vor mir: Die lesen etwas Aufregendes über "electrosensibility" und tratschen das postwendend als Beleg für "Elektrosensibilität" in ihren Newslettern weiter! Allround-Journalisten dürfte es kaum besser ergehen. So entsteht ohne böse Absicht, nur wegen Fischens in fremden Gewässern, aus Information ruckzuck Desinformation. Doch selbst das ist nicht gewiss, denn, als wäre der Sprachverwirrung nicht schon Genüge getan, heißt es im EMF-Portal am Schluss lakonisch:

In der wissenschaftlichen Literatur gibt es hierzu noch keinen einheitlichen Sprachgebrauch [...]

Was im Klartext nichts anders bedeutet, als dass jede Veröffentlichung außerhalb des deutschen Sprachraums vor ihrer Verwurstung in diesem unserem Lande kontextbezogen geprüft werden muss, ob die Autoren mit "electrosensibility" das deutsche Pendant "Elektrosensitivität" meinen oder eben doch "Elektrosensibilität". Beispiel: Lebrecht von Klitzing, frühe Lichtgestalt der Anti-Mobilfunk-Szene, schreibt in seinem jüngsten, selbstredend alarmierenden Artikel über die Wirkung von W-Lan auf die natürliche elektrische Aktivität eines Muskels (EMG-Messung) ganz zwanglos von einem Burn-out-Probanden, der behauptet unter "electrosensitivity" zu leiden. Meint von Klitzing damit wirklich "Elektrosensibilität"? Zweifelsfrei ist das nicht, denn von Klitzing reklamiert mit seiner EMG-Messung ja einen (möglicherweise nur vermeintlichen) objektiven Befund, womit "Elektrosensitivität" im Deutschen dann doch die treffendere Vokabel wäre ... :lookaround:

Himmel, auf was habe ich mich mit diesem Posting nur eingelassen?! Zuvor hatte ich mit den Begriffen keine nennenswerten Probleme. Jetzt schon. Es ist wie mit dem Kopieren einer Seite. Früher ging ich zu dem Apparat, legte die Seite drauf und drückte den Knopf. Fertig. Heute aber quälen einen diese Biester mit Fragen/Anweisungen: Schwarzweiß oder Farbe? Papierformat? Wählen Sie den Papierschacht aus! Doppelseitig oder einseitig? Hoch- oder Querformat? Verkleinern, 1:1 oder Vergrößern? Aufhellen oder Abdunkeln? Zwei Seiten auf ein Blatt? Schlussendlich: Wie viele Kopien dürfen's denn sein? Und wenn man dann entnervt den Knopf drücken darf, kommt: Papierstau :-).

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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