"Enormer Durchbruch" vor Gericht in den Niederlanden (Elektrosensibilität)

H. Lamarr @, München, Mittwoch, 06.01.2021, 18:16 (vor 1198 Tagen)

"Elektrosensible" leiden unter Wahrnehmungsverzerrungen, das ist bekannt. Weniger bekannt ist, die Betroffenen deuten auch konkret formulierte Tatsachen so um, dass diese in ihr Weltbild passen. Ein plakatives Beispiel liefert ein Gerichtsurteil vom 18. Dezember 2020 aus den Niederlanden.

Am 31. Dezember 2020 jubelt Elisabeth Buchs, "elektrosensible" Vorständin des Schweizer Vereins gigaherz.ch in ihrem Forum: Niederlande: Durchbruch in der Rechtssprechung zu Strahlenrisiken durch Drahtslos-Technologie. Ob die zur "Rechtssprechung" mutierte Rechtsprechung der politischen Vorzugsrichtung von Buchs entsprungen ist, wollen wir hier nicht weiter erörtern, auch nicht, warum anstelle der hohlen Wortblase "Drahtslos-Technologie", die bei Buchs auch als "Drahtlos-Techmologie" daher kommt, nicht einfach kürzer das Wort "Funk" dort steht. Es ist der Inhalt des Postings, der den Puls beschleunigt. Hier ein paar Kostproben:

► Niederländischer Verwaltungsrichter erkennt ein erhöhtes Gesundheitsrisiko an.

► Frohe Nachrichten aus Holland zu Weihnachten

► Der Verwaltungsrichter von Gelderland erkennt ein erhöhtes Gesundheitsrisiko für die drahtlose Technologie an, das weit unter den Expositionsgrenzwerten liegt

► Dies bedeutet, dass wir von einem enormen Durchbruch sprechen können, seit vor mehr als zwei Jahrzehnten die Bürger die Gerichte um Aufmerksamkeit für die Gesundheitsrisiken von Antennenanlagen gebeten haben. Mit anderen Worten, der niederländische Verwaltungsrichter hat den Bürgern die Stimme in der Strahlungsdebatte zurückgegeben.

► Der (falsche) Sicherheitsanspruch für Expositionsgrenzwerte von der ICNIRP kommt vom Tisch.

► Hoffen wir, das sich höhrere Instanzen dieser Sicht anschliessen und dieses Urteil aus den Niederlanden in der ganzen Europäischen Union Schule macht!

Da hat doch tatsächlich nicht etwa das oberste Verwaltungsgericht der Niederlande in letzter Instanz entschieden, sondern ein einzelner Verwaltungsrichter in erster Instanz nach bestem Wissen und Gewissen etwas für "Elektrosensible" Entzückendes. Wie bei Gigaherz üblich, gibt es in dem Posting jedoch keinen Link zu einer Originalquelle und es ist noch nicht einmal klar, wer den Text des Postings geschrieben hat. Verlinkt wird lediglich auf eine Sekundärquelle in Gestalt der Website des "elektrosensiblen" Deutschen Georg Vor. Erst dort findet sich u.a. ein Link auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Arnheim (Az.: AWB 19/2184) in niederländischer Sprache.

Die Übersetzung des Urteils mit deepl.com macht schnell klar, welches Spiel die "Elektrosensiblen" spielen. Sie verwursten reale Fakten und Fiktion zu einer Wunderkerze der Desinformation, die, wenn sie abgebrannt ist, nur noch kurz raucht. Sonst nichts. Meine Vorhersage beruht auf dem Inhalt des Urteils. Folgend einige Auszüge, die das belegen:

Leitsatz des Urteils: Umweltgenehmigung für einen Antennenmast. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts ist unter Berücksichtigung aller Argumente und unter Bezugnahme auf die wissenschaftliche Literatur nicht ausgeschlossen, dass auch bei einer Feldstärke von weniger als 1 V/m und damit auch im Fall der Klägerin erhöhte gesundheitliche Risiken bestehen können. Das Verwaltungsgericht betrachtet den Kläger daher als interessierte Partei. Die Beschwerde ist begründet.

Sachverhalt: Am 13. März 2018 beantragte [...] die Errichtung einer Antennenanlage mit einer Bauhöhe von knapp 40 Metern auf dem Grundstück [Standort] am [Wohnort]. Dieses Grundstück befindet sich ca. 500 Meter südlich von [Wohnort]. Der Zweck des Antennenmastes ist die Verbesserung des Mobilfunknetzes. Der Antennenmast verstößt gegen den Flächennutzungsplan. Die Beklagte, [Gemeinde Berkelland], hat daher für diesen Bebauungsplan am 17. Juli 2018 eine umweltrechtliche Genehmigung für die Tätigkeit "Bauen" sowie eine umweltrechtliche Genehmigung für die Tätigkeit "bauplanwidrige Nutzung" erteilt. Mit Bescheid vom 15. März 2019 wies die Beklagte den Einspruch der Klägerin gegen den Bewilligungsbescheid als unzulässig zurück.

Gegen den Zurückweisungsbescheid der Beklagten hat die Klägerin Beschwerde eingelegt.[...]

Entscheidungsgründe: Das Allgemeine Verwaltungsrechtsgesetz sieht vor, dass nur ein Betroffener gegen einen Bescheid Einspruch erheben und dann Klage bei Gericht einreichen kann. [...] Letztlich ist es Sache der Verwaltungsgerichte zu entscheiden, wer von einer Entscheidung betroffen ist. Der betreffende Prozessbeteiligte muss also nicht selbst beweisen, dass er an einer Entscheidung interessiert ist.

Die Wohnung der Klägerin befindet sich in einer Entfernung von ca. 650 Metern zum Sendemast. Es ist unstreitig, dass die Klägerin von ihrem Haus aus keinen Blick auf den Sendemast hat. Es kommt nur darauf an, ob die Klägerin durch das elektromagnetische Feld (EMF) um den Sendemast wesentliche Auswirkungen in Form eines erhöhten Gesundheitsrisikos erfährt. Die Beklagte argumentiert mit diversen Belegen, darunter ein altes Gutachten der "Stichting Advisering Bestuursrechtspraak" (StAB), gegen dieses Risiko, die Klägerin hält mit Belegen dagegen und sieht das Gutachten als veraltet an.

Das Verwaltungsgericht ist nicht die geeignete Stelle, um festzustellen, ob und wenn ja, bei welcher Feldstärke, welche gesundheitlichen Auswirkungen auftreten. Das Verwaltungsgericht hat jedoch zu prüfen, ob die gesundheitlichen Auswirkungen der gegebenen Feldstärke so hoch sind, dass sich daraus ein Betroffener im Sinne des Allgemeinen Verwaltungsrechtsgesetzes ergibt.

Nach Auffassung des Gerichts kann unter Berücksichtigung aller Argumente unter Bezugnahme auf die wissenschaftliche Literatur nicht ausgeschlossen werden, dass bereits bei einer Feldstärke von weniger als 1 V/m und damit auch im Fall der Klägerin erhöhte gesundheitliche Risiken auftreten können. Für diese Schlussfolgerung hält es das Gericht auch für wichtig, dass man sich aufgrund der fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnisse über die gesundheitlichen Auswirkungen von EMF nicht mehr auf die Schlussfolgerungen aus dem Gutachten des StAB verlassen kann. Wichtig ist auch, dass eine Behörde wie der Gesundheitsrat der Niederlande, dessen Empfehlungen bei der Meinungsbildung in solchen Fällen eine wichtige Rolle spielen, in seinem jüngsten Bericht im Wesentlichen bestätigt, dass im Falle von 5G noch nicht klar ist, welche gesundheitlichen Auswirkungen auftreten, und auch, dass es, so unwahrscheinlich sie auch sein mögen, Zusammenhänge zwischen EMF und bestimmten Krankheiten geben kann. Auch der Gesundheitsrat der Niederlande weist auf den Zusammenhang zwischen der Exposition gegenüber EMF und bestimmten biologischen Prozessen hin.

Daher ist die Klägerin nach Auffassung des Gerichts als Beteiligte anzusehen.

Ob die Gesundheitsgefährdung so groß ist, dass die Beklagte die von der Klägerin gewünschte umweltrechtliche Genehmigung nicht hätte erteilen dürfen, ist eine materielle Prüfung, die im Rahmen der Beantwortung der Frage nach den Verfahrensbeteiligten nicht gegeben ist.

Entscheidung: Die Beschwerde ist begründet und das Gericht hebt den angefochtenen Bescheid auf. Die Beklagte hat über die Beschwerde der Klägerin unter Beachtung dieses Urteils neu zu entscheiden. Das Gericht setzt eine Frist von 12 Wochen ab dem Datum der Verkündung dieses Urteils.

Aus meiner Sicht muss jedem Unvoreingenommenen zweifelsfrei klar sein, das Verwaltungsgericht in Arnheim hat lediglich das Recht der Klägerin bestätigt, als Verfahrensbeteiligte gegen den Bescheid der Beklagten Beschwerde einzulegen, und zugleich die Beklagte dazu verdonnert, zeitgemäßer gegen die Beschwerde der Klägerin zu argumentieren. Alles was die "Elektrosensiblen" sonst noch an Bahnbrechendem in dieses erstinstanzliche Urteil hinein interpretieren, Georg Vor beruft sich dabei sogar auf drei Professoren der Jurisprudenz, ist bis auf Weiteres nur heiße Luft. Gegen den Entscheid vom 18. Dezember 2020 kann die Beklagte innerhalb von sechs Wochen Berufung einlegen. Tut sie dies nicht, wird der Entscheid rechtswirksam und die Beklagte muss der Klägerin einen neuen, besser begründeten ablehnenden Bescheid zukommen lassen. Jede Wette: Geht die Auseinandersetzung nicht zugunsten der Klägerin weiter, werden wir nichts mehr von dem "Durchbruch" hören, im Erfolgsfall hingegen schon.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Klage, Desinformation, Holland, Strahlenrisiken


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