Diagnose Funk erzählt mal wieder was vom Pferd (Allgemein)

Schutti2, Montag, 13.07.2020, 01:09 (vor 1401 Tagen)

Dies ist ein langes Posting.
Ein Spaziergang in die Untiefen fragwürdiger Wissenschaft.

Die Kurzfassung geht so:
Diagnose Funk erzählt das Blaue vom Himmel, und seine „Quellen“ sind ein einziges Kartenhaus.
Ende der Kurzfassung.

Team…. was denn für ein Team?
Mit dieser Frage kam mein Anfangsverdacht.
Die selbsternannte Verbraucher- und Umweltschutzorganisation „diagnose:funk“ informiert die Weltöffentlichkeit über die „Pearce-Studie“:

"Der Standort von Mobilfunkmasten muss sorgfältig geplant werden!"
US-Ingenieur-Team fordert 500 Meter Abstand

Weil „d:f“ auch den Link zu der „Pearce-Studie“ mitliefert, sieht man sofort:
Es gibt dieses „US-Ingenieur-Team“ gar nicht.
Herr Pearce hat seinen Artikel ganz allein verfasst. Kein einziger Co-Autor. Mag ja sein, er hat ein Team - mit diesem Artikel hätte es jedenfalls nichts zu tun. Wenn hier einer was fordert, dann er ganz allein.

Warum schreiben die Funkdiagnostiker dann sowas?? :no:
Halten die ihre Leser schon für zu blöd, den ersten Klick nach der Überschrift zu machen? Sie hätten ja schreiben können: „Weltbekannter US-Ingenieur“ (er hat eine Wkipedia-Seite) oder „unabhängiger US-Ingenieur“ (er ist nicht vom Fach, s.u.) oder „hochrangiger US-Ingenieur“ (hochrangig sind eh alle, die schreiben, was „d:f“ passt).
Aber nein: Der Artikel beginnt gleich mal mit einer glatten Unwahrheit.

Also Anfangsverdacht.
Was macht denn der Dr. aus Michigan?
Seine Fachgebiete sind Photovoltaik, open-source hard- und software, wie z.B. 3D-Drucker. Qualifiziert ihn das zu einem Übersichtsartikel über die Gefährlichkeit von Mobilfunksendern? Klar, fordern kann jeder. Also: Wie begründet er seine Forderung?

Er tut das, wenn man ihm glauben darf, mit seiner Sicht auf die Studien-Literatur:
(Übersetzungen im folgenden von mir)
„Ein Übersichtsartikel zu gesundheitlichen Auswirkungen in der Nähe von Basisstationen kam zu dem Schluss, dass Basisstationen […] nicht näher als 500 m zur Bevölkerung und in einer Höhe von 50 m gelegen sein sollten.“
Es folgt hier eine Quellenangabe zu einer polnischen Studie. Die besitzt er aber gar nicht. Er zitiert also auf Verdacht. Und sein Verdacht geht daneben. Zu dieser wirklich spannenden Sache kommt noch ein zweites Posting.

Wieviel Basisstations-Studien hat Pearce insgesamt ausgewertet?
Zehn.
„Insgesamt haben von den bisherigen epidemiologischen Studien, die negative gesundheitliche Auswirkungen von Mobilfunk-Basisstationen untersuchten, 80% über eine erhöhte Prävalenz von schädlichen neurologisch bedingte Verhaltensänderungen oder von Krebs berichtet - in Bevölkerungsgruppen, die in Entfernungen < 500 m von Basisstationen leben. Sieben Studien untersuchten den Zusammenhang zwischen der Nähe von Basisstationen und neurologisch bedingten Verhaltensänderungen und drei Studienuntersuchten Krebs.“

Wie schrieb „d:f“…?
„Sein Team recherchierte die aktuellen Daten zu Wirkungen der Hochfrequenzstrahlung.“
Zehn Studien.
Die älteste ist die bahnbrechende "Santini & Santini"-Studie von 2002. Die jüngste, von Levitt & Lai ist aus 2010. Gut, eine von den zehn Publikationen ist noch jünger – aber dafür ist diese gar keine epidemiologische Studie mit selbst erhobenen Daten. Sondern ein „Mini-Review“ ähnlicher Qualität, wie die Pearce-Studie. Magda Havas (2017). Bei Pearce die Quelle Nr. 8, und hier ist ihm auch noch das die Quellenangabe total misslungen. Selbst nachgoogeln, wen es interessiert. Magda Havas wäre ein Thema für sich.
Also neun Quellen aus dem vorletzten Jahrzehnt sind die „aktuellen Daten“ zur Epidemiologie um Basisstationen?
Zweifel sind angebracht.

Freilich, der Quellenapparat in der „Pearce-Studie“ ist noch etwas länger. Er umfasst 24 Publikationen. Aber hier ging es ja um die Basisstationen und die Forderung nach 500 m Abstand. Was z.B. soll hier eine Studie aus dem Jahr 1986, bei der der Ratten im Labor dauerhaft mit 2,4 GHz Mikrowellenstrahlung am Grenzwert (0,5 mW/cm²) bestrahlt wurden?
Die Quellen scheinen von Pearce so zufällig ausgewählt, man darf dankbar sein, dass es bei 24 Stück geblieben ist. Ganz so zufällig sind sie aber gar nicht ausgewählt, auch dazu später mehr.

Dennoch einen genaueren Blick nur mal auf eine von Pearce zitierte Literatur, die Quelle Nr. 1.
Pearces Arbeit beginnt mit
„Es gibt zahlreiche und immer mehr Beweise dafür, dass die Exposition des Menschen durch HF-Strahlung von Mobilfunk-Basisstationen negative Auswirkungen auf die Gesundheit hat.“ [1;2;3]

Quelle 1 hat den Titel:
„Electromagnetic Radiation from Cellphone Towers: A Potential Health Hazard for Birds, Bees, and Humans.“
„Electromagnetic Radiation from Cellphone Towers“ – das ist doch eine Studie zu Funkmasten- oder etwa nicht? Schaun wir mal.
Der Text, Autor ist Herr Siddoo-Atwaal, ist keine in der Literaturdatenbank pubmed abrufbare Studie, sondern ein Kapitel in einer Monografie mit dem Titel „Current Understanding of Apoptosis: Programmed Cell Death“
Man findet ihn leicht im web, z.B. hier.

Im ersten Kapitel „Electromagnetic Spectrum“ erfahren wir kurz etwas über die Frequenzen des Mobilfunks, und dann gleich einiges über Radioaktivität“
„Die wesentlichen Radioisotope, die durch die Explosion des Atomreaktors von Tschernobyl freigesetzt wurden waren Jod-131, Cäsium-137, Strontium-90 und Plutonium-241. […]
Nach dem Tschernobyl-Ereignis wurden in den umliegenden Regionen Europas Waldnahrungsmittel mit den höchsten bislang gemessenen Werten des Radioisotops Cäsium-137 gefunden, die die. In Skandinavien wurde über Rentierfleisch berichtet. Daten von Pollen in den Wäldern der bayerischen Alpen zeigen ebenfalls, dass die Aufnahme von Radiocäsium durch Moose einen eindeutigen Bezug zum Tschernobyl-Vorfall hat. [...]
Eine lokale Reduktion von Bestäubern wie Hummeln in der Umgebung von Tschernobyl
wurde mit der Produktion von weniger Obst und verkümmerten Obstbäumen in hoch radioaktiven Gebieten in Verbindung gebracht. Darüber hinaus wurde ein direkter Zusammenhang zwischen Strahlung, Bestäubern und Fruchtreichtum hergestellt.“

Hallo – sind wir im falschen Film?
Der nächste Satz schießt den Vogel ab:
„Aufgrund der beobachteten Rückgänge bei Wildvögeln und Honigbienen ist es möglich, dass elektromagnetische Felder negativ die Obstproduktion in Gebieten mit hoher Dichte von Funktürmen beeinflussen.“

Wie jetzt... Wegen Cäsium-137 sterben Tiere und darum sind Funktürme gefährlich?:confused:
Und Zitronenfalter falten Zitronen?
Kurz darauf dies:
„Später fanden amerikanische Forscher Symptome wie Ekzeme, Psoriasis sowie allergische und entzündliche Reaktionen bei Mitarbeitern der US-Botschaft in Moskau, die von der sowjetischen Regierung über einen Zeitraum von etwa 20 Jahren heimlich bestrahlt wurde. Es ist von Interesse, dass die Leistungsdichten der von den Sowjets eingesetzten Mikrowellen vergleichbar waren mit denen moderner Mobilfunk-Basisstationen.“
Es vor allem von Interesse, dass diese Geschichte von der sog. „Lilienfeld-Studie“ ein Ammenmärchen ist. Diese mysteriöse Funk-Bestrahlung der US-Botschaft gab es, aber Lilienfeld zeigte, dass sie gerade KEINE Krankheitssymptome hervorrief. Spätestens seit der Publikation von Elwood dazu dürfte das klar sein.
Diese Arbeit zitiert Herr Siddoo-Atwaal freilich nicht in seinen 69 Quellen.
Kurzum: Der ganze Text von Siddoo-Atwaal ist nach meiner Meinung ein schönes Stück Junk Science ohne eigene Daten. Ein bisschen Phantasie, googeln und Guttenbergscher Fleiß beim Sammeln des Zitatekastens, fertig ist der Text.
Wer ist überhaupt Herr Siddoo-Atwaal?
Von ihm gibt es eine einzige in pubmed gelistete Studie, zu einer seltenen genetisch bedingten Hautkrankheit, aus dem Jahr 1996. Da war er an der „School of Kinesiology“ der Simon Fraser University in Kanada.
Kinesiologie…? Egal.
Was macht Herr Siddoo-Atwal jetzt so?
Er ist „Präsident und erster Biochemiker“ der Moondust Cosmetics Ltd., Canada.

Und deren Produkte helfen gegen… wer hätte das gedacht… gegen die Apoptose.
Klingt gut, muss man nicht wissen, was das genau ist.
Hauptsache man nimmt die Creme dagegen.

Schluss hier, ich krieg die Pickel.

Tags:
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