Wie die Komplementärmedizin in der Schweiz salonfähig wurde (Esoterik)
Seit 17. Mai 2009 hat der Aberglaube in der Schweiz Verfassungsrang: Die "Komplementärmedizin" wurde salonfähig.
Nach sechsjähriger Testphase wurden 2005 in der Schweiz fünf Therapieformen der Komplementärmedizin von der Liste der kassenpflichtigen Leistungen gestrichen: anthroposophische Medizin, Homöopathie, Neuraltherapie, Phytotherapie und die traditionelle chinesische Medizin. Bei Vertretern dieser Therapieformen suchen auch angeblich von Mobilfunk Betroffene (sogenannte Elektrosensible) gerne Heilung.
Es war ein Sieg der Vernunft. Für die Interessenvertretungen der Komplementärmediziner war es gleichwohl der Startschuss, mit Lobbyarbeit diesen Beschluss zu kippen. Sie initiierten eine Volksabstimmung und führten an, Komplementärmedizin sei ein Bedürfnis der Bevölkerung, Behandlungsqualität und Patientensicherheit werde verbessert und insgesamt werde das Gesundheitssystem finanziell entlastet. Gegner der Komplementärmediziner führten ins Feld heutige Gesetze reichten aus und alternative Behandlungsmethoden bewirkten Mehrkosten im Gesundheitswesen und höhere Krankenkassenprämien. Und: Wer Komplementärmedizin nutzen wolle, solle selber dafür bezahlen.
Am 17. Mai 2009 war es soweit: Die Eidgenossen entschieden sich per Volksabstimmung mit 2/3 Mehrheit für die Komplementärmedizin. Ein neuer Verfassungsartikel verpflichtet seither Bund und Kantone, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten dafür zu sorgen, dass die Komplementärmedizin im Gesundheitssystem berücksichtigt und integriert wird. Mit anderen Worten: Die Mehrheit der Schweizer will sich ihr Recht auf Aberglauben und Hokuspokus nicht nehmen lassen.
Die Lobbyarbeit der Komplementärmediziner wurde von Erfolg gekrönt. Erwartungsgemäß war die Zustimmung dort überdurchschnittlich hoch, wo alternative Heilmethoden stark verbreitet sind (Kantone Appenzell Ausserrhoden, Basel, Bern). Aufgeklärter waren die Bewohner der Kantone Schaffhausen, Uri und Schwyz, dort war die Zustimmung unterdurchschnittlich.
Zum vollen Erfolg fehlt aber noch ein Stückchen. Die fünf 2005 geschassten Therapieformen wurden zwar 2012 wieder in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufgenommen, jedoch nicht bedingungslos. Bis Ende 2017 haben die Interessenvertreter der Komplementärmedizin jetzt abermals Gelegenheit, die Daseinsberechtigung ihrer Heilmethoden unter Beweis zu stellen, sie müssen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein, um anerkannt zu werden. Dies erklärt die Bemühungen der Komplementärmedizin, mit zahllosen "wissenschaftlichen Studien" Wirkungsnachweise zu erbringen. Inwieweit es gelingen wird, bei der Menge der Studien, die Rede ist von 2000, Pseudowissenschaft sauber von Wissenschaft zu trennen, dürfte ein entscheidender Punkt in dem Gerangel werden.
Aus meiner Sicht ist nicht so sehr erschreckend, dass über die Anerkennung von Aberglauben und Hokuspokus diskutiert wird, sondern die große Ernsthaftigkeit, mit der dies geschieht. Allein dieser Umstand bedeutet schon einen unverdient geschenkten Punkt zugunsten der Komplementärmedizin.
Quellen
Wikipedia über Komplementärmedizin
Abstimmung 17. Mai 2009: „Zukunft mit Komplementärmedizin“
Deutliche Zustimmung zur Komplementärmedizin
Komplementärmedizin bleibt auf dem Prüfstand
Stand der Umsetzung des neuen Verfassungsartikels zur Komplementärmedizin
Das Ende der Homöopathie in Großbritannien
Die Homöopathie-Lüge: So gefährlich ist die Lehre von den weißen Kügelchen
Daubert-Standard trennt Pseudowissenschaft von Wissenschaft
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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –
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