Wie organisierte Mobilfunkgegner "Elektrosensiblen" schaden (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Dienstag, 29.04.2025, 20:56 (vor 16 Stunden, 38 Minuten) @ H. Lamarr

In diesem Strang geht es um fantasiereiche Interpretationen einer Äußerung Erwin Schliephakes durch organisierte Mobilfunkgegner. Tenor: Der deutsche Mediziner habe bereits 1932 die Symptome des "Mikrowellensyndroms" beschrieben, unter denen in unseren Tagen angeblich "elektrosensible" Personen leiden würden. Doch nimmt man Schliephake beim Wort, wendet dies den Spieß und "Elektrosensible" werden unvermittelt zu unerwünschten Personen.

Die Autoren der fantasiereichen Interpretationen haben ihre Deutungen geschickt eingefädelt. Denn mit ihren mehr oder weniger schlauen Zitatverfälschungen haben sie erfolgreich davon abgelenkt, dass Schliephake die Symptome, welche Menschen im Strahlungsfeld starker Kurzwellensender zeigten, mit den Symptomen von Neurasthenikern gleichsetzt. Wörtlich schrieb er: "Es treten Erscheinungen auf, wie wir sie bei Neurasthenikern zu sehen gewohnt sind." Die Symptome, die Schliephake Neurasthenikern zuschreibt, schreiben die Autoren der fantasiereichen Interpretationen den "Elektrosensiblen" zu, um mit dem unnützen Wissen kokettieren zu können: Bereits 1932 wurden Symptome des "Mikrowellensyndroms" unter Kurzwellenexposition beschrieben. Sie leisten "Elektrosensiblen" damit einen Bärendienst. Denn die Autoren sind es, die ohne Not eine Verbindungslinie von den Neurasthenikern zu den "Elektrosensiblen" herstellen und so den Gedanken provozieren, Neurastheniker und "Elektrosensible" sind zwei Begriffe aus unterschiedlichen Epochen für die gleiche Personengruppe.

Die Gleichsetzung von Neurasthenikern und "Elektrosensiblen" wäre nun nicht weiter schlimm, wäre Neurasthenie eine Erkrankung mit passablem Ansehen gewesen. Doch dem ist nicht so. Neurasthenie hatte in aller Regel einen ziemlich schlechten Ruf, auf jeden Fall keinen besseren als heute "Elektrosensibilität". Mit der gedankenlos hergestellten Verbindung zwischen beiden Begriffen schaden die Autoren der fantasiereichen Interpretationen den "Elektrosensiblen", weil diese nun auch noch das Stigma der Neurastheniker zu ertragen haben. Dies wird deutlich, schaut man sich einige wahllos herausgegriffene Quellen zum Begriff Neurasthenie an:

Dr. med. Uwe Henrik Peters, Klinik und Poliklinik für Neurologie und Psychiatrie der Universität zu Köln, beginnt 2002 in einem Fachblatt sein Editorial "Die Neurasthenie als ewiger Wiedergänger" so: Da hatte man geglaubt, die Neurasthenie sei für ewig begraben, vom naturwissenschaftlichen Fortschritt zugedeckt, von verfeinerten psychodynamischen Theorien bis zur Unkenntlichkeit zerdeutet, eine Fußnote nur noch in historischen Werken. Und nun ist sie wieder da, gleich in mehrfacher Gestalt, wie M. L. Schäfer in einer breit angelegten Literaturstudie in diesem Heft aufdeckt. Die Dame Neurasthenia hat ihre Gestalt dem Zeitgeist angepasst und heißt nun Chronic fatigue (CFS), Fibromyalgia (FM) und Multiple chemical sensivities (MCS). Die Ausdrücke dürfen auch ins Deutsche übersetzt werden, wirken dann aber nicht mehr wissenschaftlich. Sogar Neurasthenia darf man wieder sagen, ohne als unmodern zu gelten. Auch die alten Ursachenvorstellungen sind wieder da: Es gibt ganz bestimmte organische Ursachen, nur hat man diese noch nicht gefunden, in den Labors wird schon emsig gesucht. [...]

Stabsarzt Dr. Schütz schreibt 1917 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift: [...] Bei den Neurasthenikern des Besatzungsheeres kann man immer und immer wieder die Beobachtung machen, daß sie die Lazarette in der Heimat bevölkern, ohne sich wesentlich zu bessern. Ueberweist man sie einem Genesungsheim, so sieht man sie nach vier Wochen ebenfalls nicht gebessert oder recht oft sogar verschlechtert wieder. Aus diesem Grunde ist es nach meiner Ansicht immer noch vorzuziehen, sie nicht in die Heimatlazarette aufzunehmen, sondern sie bei der Truppe zu belassen, wo sie leichten Garnisondienst verrichten können. Ich halte die Beschäftigung dieser Neurastheniker im Interesse ihrer Genesung für unbebedingt notwendig und muß leider zugeben, daß sie diese Beschäftigung in den wenigsten Lazaretten, geschweige denn im Genesungsheim in der für sie notwendigen Weise finden. [...]

Das DocCheckFlexikon weiß über Neurasthenie: [...] Bei der zweiten Form der Neurasthenie geben die Patienten körperliche Schwäche und Erschöpfung nach nur geringer Anstrengung an. Begleitend berichten Patienten über muskuläre und andere Schmerzen sowie eine Unfähigkeit, sich zu entspannen. [...]

Fallstudie George Miller: Ein Neurastheniker. Vorgestellt von Heidi Jurczyk auf einer Psychiatrietagung 2002: George Miller, ein 51 Jahre alter Privatier und ehemaliger Bankangestellter, wurde im Jahr 1902 wegen nachlassender Leistungsfähigkeit, Kopfschmerzen und zahlreicher hypochondrischer Beschwerden im Bellevue (eine Kuranstalt) behandelt. Das schillernde Krankheitsbild wurde als „Neurasthenie“ bezeichnet.

Der Artikel "Zwischen Hysterie und Neurasthenie" beschäftigt sich mit der Medizin im Ersten Weltkrieg: [...] Der zitternde Kriegshysteriker wurde zum Gegenbild des heroisch-maskulinen Soldaten, der mit all seiner Kraft für den Sieg kämpfte. Seine Symptome galten bislang als spezifisch weiblich, weshalb eine Hysteriediagnose auch die Männlichkeit der betroffenen Soldaten in Frage stellte. Sowohl Patienten als auch Militärärzte lehnten den für Militärpersonen ehrwidrigen Begriff der „Hysterie“ weitgehend ab. Aus diesem Grund griffen die Militärpsychiater bei der Erstellung der Diagnose vermehrt auf den Terminus der „Neurasthenie“ zurück, der als Synonym für Nervosität oder Hysterie Verwendung fand. Neurasthenie galt vornehmlich als Männerkrankheit und fasste verschiedene Symptome zusammen: nervöse Erschöpfung, vermehrte Erregung, Reizbarkeit und Depression. [...]

Das Video-Lernportal Lecturio weiß über Neurasthenie: Rund 20-30 Prozent aller Patienten, die zum Arzt gehen, leiden an Beschwerden, die sich körperlich äußern, denen jedoch seelische Probleme zugrunde liegen (psychosomatische Störungen). Dem Arzt fällt in diesen Fällen die schwierige Aufgabe zu, eine echte Organkrankheit (z. B. Schilddrüsenüberfunktion) auszuschließen. Die Diagnosen »Nervenschwäche«, »Nervosität« oder »Neurasthenie« sind heute aus der ärztlichen Fachsprache fast ganz verschwunden. Stattdessen spricht man von »vegetativer Dystonie«, vom »psychovegetativen Syndrom« oder von »vegetativer Dysregulation«. Dabei handelt es sich um eine Reihe von Störungen unterschiedlicher Organe, die auf eine Unausgeglichenheit des vegetativen Nervensystems zurückzuführen sind; wobei allerdings die tiefere Ursache (Lebensangst, innere Unsicherheit und Konflikte aller Art) - wie bereits erwähnt - meist im seelischen Bereich zu suchen ist.

Typisch ist die subjektive Überwertung der als sehr stark empfundenen Beschwerden, für die kein entsprechender Organbefund vorliegt. In erster Linie klagen die Betroffenen über Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Herzbeschwerden, allgemeine Schwäche, Magen-Darm-Probleme, Schwindel, Sexualstörungen, depressive Verstimmung, Atembeschwerden und Kreuzschmerzen. Sehr oft brechen diese Beschwerden in hormonalen Krisenzeiten (Entwicklungsjahre, Schwangerschaft, Wochenbett, Wechseljahre) aus. Aber auch bei älteren Menschen können ähnliche Störungen als Reaktion auf die abnehmende körperliche Leistungsfähigkeit, den Abschluss der Berufstätigkeit, die Generationentrennung oder den Lebensrückblick auftreten. [...]

--
Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Mikrowellensyndrom, Elektrochonder, Schliephake, Elektrosensibel, Stigma, Neurastheniker


gesamter Thread:

 RSS-Feed dieser Diskussion

powered by my little forum