Was Trichotillomanie von "Elektrosensibilität" unterscheidet (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Samstag, 08.04.2017, 21:34 (vor 2781 Tagen) @ H. Lamarr

K.o.-Argument: "In Deutschland reagieren laut einer Erhebung des Bundesamts für Strahlenschutz aus dem Jahr 2006 etwa 6 Prozent der Bevölkerung mit Krankheitssymptomen auf hochfrequente Strahlung, Tendenz steigend." (Quelle) Diese Behauptung taucht in mehr oder weniger abgewandelter Form - auch schon mal mit dem Wert 10 % - immer wieder einmal auf und wird gerne im Zusammenhang mit Schilderungen über Elektrosensibilität gebracht.

Wissen Sie was Trichotillomanie ist? Das ist der unwiderstehliche Zwang, sich selbst die Haare auszureißen, eine psychische Störung also. Ich kenne niemand in meinem Bekannten und Verwandtenkreis, der unter diesem Zwang leidet. Und doch heißt es in diesem Spiegel-Artikel über die seltene Krankheit, 1 Prozent der Bevölkerung leide darunter. Das wären erstaunlich viele nämlich ungefähr 800'000 Personen in Deutschland.

Und glaubt man einer an der Uni Osnabrück geschriebenen Diplomarbeit, dann sind die Zahlen noch viel höher:

Die erste systematische Studie wurde von Christenson et al. (1991b) an 2579 College-Studenten durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen eine Lebenszeit-Prävalenz von 0,6% aller Studenten laut DSM-Kriterien. Bei weniger streng gehandhabten Kriterien, ungeachtet dem Kriterium der Spannungsreduktion, erhöhte sich diese Rate auf 1,5% bei den Männern und 3,4% bei den Frauen (2,5% Gesamt).
Weitere Studien mit Studenten folgten, bei denen Prävalenz-Raten von 10-15,3% gefunden wurden (Rothbaum et al., 1993; Stanley et al., 1994; Graber und Arndt, 1993; Stanley et al., 1995).
Methodische Mängel und Unstimmigkeiten zwischen diesen Studien lassen einen Rückschluß auf die aktuelle Prävalenz in der Gesamtbevölkerung jedoch nicht zu (Christenson & Mansueto, 1999). Aufgrund der Ergebnisse der Studien muß man jedoch davon ausgehen, daß die Anzahl der Betroffenen weit höher liegt als bisher angenommen.

Womit ich sagen will: Obwohl es womöglich Millionen unter Trichotillomanie leidende Menschen um uns herum gibt, liegt die öffentliche Wahrnehmung dieser Personengruppe dicht bei Null. Ganz anders bei sogenannten "Elektrosensiblen", die Monat für Monat bevorzugt in den Boulevardmedien wie Jahrmarktattraktionen präsentiert oder als Opfer einer überbordernden Mobilfunknutzung den Tränen nahe inszeniert werden.

Wie kommt das?

Meine Antwort: Mit Angst vor Trichotillomanie lässt sich weder Geld verdienen noch hat diese Krankheit einen anziehenden Status, der auf Krankheitsgewinn hoffen lässt. Wer Trichotillomanie hat, ist einfach nur krank und arm dran. Mit "Elektrosensiblen" als Vorzeigeobjekte verdient hingegen eine ganze Reihe von Branchen Geld, indem Gutgläubigen angebliche "Elektrosensible" als Vorboten einer Seuche präsentiert werden, die alsbald alle heimsuchen wird, es sei denn man sorgt vor mit einem käuflich zu erwerbendem Zaubertrank, mit einer Schirmung oder wenigstens mit einer Elektrosmog-Messung. Kurz: Es ist der starke kommerzielle Aspekt, der die schätzungsweise nur 500 selbstdiagnostizierten bekennenden "Elektrosensiblen" in Deutschland um so viel zahlreicher und wichtiger erscheinen lässt, als eine Million echte Trichotillomanie-Kranke. Den Haarausreißern fehlt die Lobby, die vor ungefähr 25 Jahren die ersten Mobilfunk-"Elektrosensiblen" als cleveres Geschäftsmodell frei erfunden hat und seither vermarktet.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Elektrochonder, Krankheitsgewinn, Kommerz


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