Was ist neu? Referenzwertüberschreitungen jetzt erlaubt (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Samstag, 21.07.2018, 19:21 (vor 2312 Tagen) @ H. Lamarr

ICNIRP unterscheidet seit eh und je zwischen Basisgrenzwerten (Stromdichte, SAR) und davon abgeleiteten Referenzwerten (elektrische Feldstärke, Leistungsflussdichte im Fernfeld). Da die Basisgrenzwerte abstrakt und nur äußerst schwierig zu kontrollieren sind gibt es die kinderleicht zu messenden Referenzwerte.

Bislang hieß es immerzu, die Referenzwerte wären so konservativ bemessen, dass bei ihrer Einhaltung eine Überschreitung der (eigentlich wichtigen) Basisgrenzwerte mit Sicherheit ausgeschlossen sei. Doch das stimmt nicht.

Im neuen Entwurf ihrer Richtlinien räumt ICNIRP ein, ihr seien Expositionsszenarien bekannt, bei denen trotz Einhaltung des Referenzwerts der Basisgrenzwert überschritten werden könne. Für organisierte Mobilfunkgegner ist dies vermutlich das Platzen einer Bombe, die nach einer Senkung der Referenzwerte schreit. ICNIRP aber gibt sich gelassen. Man habe die besagten Expositionsszenarien untersucht und festgestellt, dass sie a) sehr speziell sind, also selten zutreffen, b) die Überschreitung des Basisgrenzwerts gering ist und sie c) keine Auswirkungen auf die Gesundheit hat. Als Beispiel für ein solches Szenario wird ein Mensch geringer Größe genannt (3-jähriges Kind), der aufrecht stehend für mindestens 30 Minuten von vorne einer ebenen Wellenfront im Frequenzbereich der Körperresonanz (maximal 100 MHz) oder im Frequenzbereich 1 GHz bis 4 GHz ausgesetzt ist. Auch Laien können erkennen, diese Ansammlung von Bedingungen trifft üblicherweise nicht zu. Passiert dies aber doch, kann daraus eine geringe Überschreitung der zulässigen Ganzkörper-SAR um 40 Prozent resultieren. Gering ist der Wert deshalb, weil diese Überschreitung nicht größer ist als der Messfehler von Ganzkörper-SAR-Messungen. Wegen alledem hat ICNIRP entschieden, die Referenzwerte von 1998 unverändert beizubehalten. Der Verein formuliert es im Original zwar etwas anders, aus meiner Sicht will man jedoch eine nicht zwingend nötige Referenzwertsenkung unbedingt vermeiden, um das Vertrauen in die bisherigen Referenzwerte nicht zu beschädigen und die Bevölkerung nicht zu beunruhigen. Denn das Beispiel Schweiz zeigt unmissverständlich, die dortige Referenzwertsenkung (auf Vorsorgewerte) hat irrationale Ängste in der Bevölkerung befeuert, nicht abgebaut. Stabilität und Kontinuität bei den zulässigen Immissionswerten ist nach dieser Erfahrung die offenbar bessere Alternative.

Der Originalauszug aus dem Entwurf der neuen ICNIRP-Richtlinien lautet im Wortlaut:

ICNIRP is aware that for some exposure scenarios, EMFs at the reference levels described below could potentially result in exposure that exceeds basic restrictions. Where such scenarios were identified, ICNIRP determined whether the reference levels needed to be reduced by considering the magnitude of the difference between the resultant tissue exposure and basic restriction (including comparison with the associated dosimetric uncertainty), and whether the violation was likely to affect health (including consideration of the degree of conservativeness in the associated basic restriction). Where the difference was small, and where it would not impact on health, reference levels were set that can potentially result in exposures that exceed the basic restrictions. This reduces unnecessary changes and maintains the stability of the guidelines (relative to ICNIRP 1998), which ICNIRP views as beneficial to the whole community.
This situation has been shown to occur in terms of the reference levels corresponding to whole body average SAR basic restrictions, which, in the frequency range of body resonance (up to 100 MHz) and from 1 to 4 GHz, can potentially lead to whole body average SARs that exceed the basic restrictions. The exposure scenario where this can potentially occur is very specific, requiring a small stature person (such as a 3-year old child) to be extended (e.g. standing) for at least 30 minutes, while being subject to a plane wave exposure within the above frequency ranges, incident to the child from the front to back. The resultant SAR elevation is small relative to the basic restriction (circa 40%, which is similar to the in vivo whole body average SAR measurement uncertainty; Flintoft et al., 2014), there are many levels of conservativeness built into the basic restriction derivation itself, and importantly, this will not impact on health. This latter point is important because the basic restriction that this relates to was set to protect against body core temperature elevations of greater than 1 °C, and being of small stature, the individual in this hypothetical exposure scenario would more-easily dissipate heat to the environment than a larger person due to their increased body ‘surface area to mass ratio’ ((Hirata et al., 2013). Within a small stature person the net effect of this ‘increased whole body SAR’ and ‘increased heat loss’ would be a smaller temperature rise than would occur in a person of larger stature. ICNIRP has thus not altered the reference levels to account for this situation, because to do so would reduce the continuity of its guidelines (with those of ICNIRP 1998) without any benefit to health and safety.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
ICNIRP, Vorsorgewert, Grenzwert, SAR-Wert, Richtlinie, Referenzwert


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