IARC wird HF-EMF nicht vor 2027 neu eingruppieren (Forschung)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 01.12.2024, 22:04 (vor 3 Tagen) @ H. Lamarr

Jetzt isses amtlich: Auch 2025 wird die lange erwartete HF-EMF-Neubewertung des Krebsrisikos durch Iarc nicht stattfinden. Neuer Termin: bevorzugt 2028 oder 2029. Zu diesem Ergebnis kam eine von Iarc einberufe Beratergruppe, die Prioritäten für Iarc-Monographien im kommenden 5-Jahres-Turnus 2025 bis (Ende) 2029 setzte.

Im März 2024 traf sich eine Beratergruppe aus 28 unabhängigen Wissenschaftlern aus 22 Ländern in Lyon, Frankreich, um Prioritäten für die Karzinogenitätsbewertungen durch das Monographienprogramm der Internationalen Agentur für Krebsforschung (Iarc) im Zeitraum 2025–29 zu empfehlen. Iarc veröffentlichte den Bericht der Beratergruppe am 4. November 2024. Die mit Abstand meisten von mehr als 200 Kandidaten für eine Eingruppierung des Krebsrisikos gehen auf das Konto der chemischen Industrie. HF-EMF ist einer der wenigen physisch einwirkenden Kandidaten.

Lesen Sie nun in deutscher Übersetzung (Text kursiv), mit welcher Begründung die Beratergruppe Iarc die erneute Eingruppierung von HF-EMF mit hoher Priorität in der zweiten Hälfte des kommenden 5-Jahres-Turnus empfiehlt (englischer Originaltext ab Seite 171 des Berichts):

Aktuelle IARC/WHO-Klassifizierung

Die Strahlung hochfrequenter elektromagnetischer Felder (HF-EMF) (auch von drahtlosen Mobiltelefonen) wurde bereits 2011 von IARC in der IARC-Monographie, Band 102, als möglicherweise krebserregend für den Menschen (Gruppe 2B) eingestuft (IARC, 2013a), basierend auf begrenzten Hinweisen auf Gliome und Akustikusneurinome beim Menschen. HF-EMF wurde von der Beratungsgruppe für die Empfehlung von Prioritäten für die IARC-Monographien im Zeitraum 2020–2024 (IARC, 2019a) auf der Grundlage neuer Krebs-Bioassay-Nachweise in zwei unabhängigen Studien (siehe unten) als Kandidat mit hoher Priorität eingestuft.

Die WHO führt eine Bewertung der Gesundheitsrisiken von HF-EMF für eine Vielzahl von Endpunkten, einschließlich Krebs, durch. Diese wird als Monografie in der Reihe „Environmental Health Criteria“ veröffentlicht und basiert auf mehreren, derzeit laufenden, systematischen Reviews, die von der WHO in Auftrag gegeben wurden (Lagorio et al., 2021; Mevissen et al., 2022).

Expositionscharakterisierung

In der IARC-Monographie, Band 102, wurde HF-EMF-Strahlung als Strahlung im Frequenzbereich von 30 kHz bis 300 GHz definiert (IARC, 2013a). Die Exposition tritt in der Allgemeinbevölkerung und am Arbeitsplatz auf, wobei die Quellen Mobiltelefone, Funknetze, Fernsehen, Radio, 5G, Bluetooth, Mikrowellen, Kochfelder, industrielle Materialerwärmung, Radar, Diebstahlsicherungen und MRT umfassen (IARC, 2013a). Die Exposition gegenüber Mobiltelefonen ist allgegenwärtig, wenn man bedenkt, dass fast 95 % der Bevölkerung in Ländern mit hohem Einkommen und 49 % in Ländern mit niedrigem Einkommen ein Mobiltelefon besitzen (International Telecommunications Union, 2022). Es liegen Quellen-Expositionsmatrizen für die Allgemeinbevölkerung und Arbeitnehmer vor (Vila et al., 2016; van Wel et al., 2021).

Krebs beim Menschen

Der Bericht der Beratergruppe von 2019 (IARC, 2019a) wies darauf hin, dass die Ergebnisse epidemiologischer Studien, die zeitlich nach der IARC-Monographie, Band 102 veröffentlicht wurden, uneinheitlich waren (Benson et al., 2013; Hardell et al., 2013; Coureau et al., 2014; IARC, 2019a; Röösli et al., 2019). Nach dem Bericht der Beratergruppe von 2019 (IARC, 2019a) wurden die Ergebnisse der MOBI-Kids-Studie publiziert, einer internationalen Studie über Hirntumore und die Nutzung von Funktechnik durch Kinder und Jugendliche (Castaño-Vinyals et al., 2022), es gab die Aktualisierung der britischen Million-Women-Study (Schüz et al., 2022) und erste Ergebnisse der Europäischen Kohortenstudie zur Nutzung von Mobiltelefonen und Gesundheit (COSMOS) (Feychting et al., 2024). Die MOBI-Kids-Studie stellte kein erhöhtes Risiko für neuroepitheliale Hirntumore fest (Castaño-Vinyals et al., 2022).

In der Aktualisierung der Million-Women-Study wurde das zuvor berichtete erhöhte Risiko für Akustikusneurinome (Nutzung über 10 Jahre im Vergleich zu nie, RR, 2,46; 95 % KI, 1,07–5,64) (Benson et al., 2013) abgeschwächt (10+ Jahre Nutzung versus nie, RR, 1,32; 95 % KI, 0,89–1,96), und es wurde kein erhöhtes Risiko für andere Krebsarten (Gliom, Glioblastom, Hypophysen-, Augentumor) festgestellt; die Expositionsbewertung war jedoch ungenau. Die vorherige Analyse (Benson et al., 2013) ergab einen Ptrend = 0,03 für Akustikusneurinome nach Nutzungsdauer, eine solche Analyse fehlt jedoch in der aktualisierten Veröffentlichung (Schüz et al., 2022). COSMOS verfolgte 264'574 Teilnehmer über einen Median von 7,12 Jahren (Rekrutierung 2007–2012 in Dänemark, Finnland, den Niederlanden, Schweden und dem Vereinigten Königreich). Für 100 regressionskalibrierte kumulative Stunden von Telefonaten (länderspezifische regressionskalibrierte Schätzungen auf der Grundlage von Daten, die von den Betreibern erhoben wurden, wurden auf die gemeldeten Messwerte angewendet) betrug das HR 1,00 (95 % KI, 0,98–1,02) für Gliome, 1,01 (95 % KI, 0,96–1,06) für Meningeome und 1,02 (95 % KI, 0,99–1,06) für Akustikusneurinome (Feychting et al., 2024).

Die Nutzung von Mobiltelefonen war in der UK-Biobank-Kohorte mit einem Anstieg von Krebserkrankungen insgesamt und von nicht-melanozytärem Hautkrebs, Harnwegskrebs (nur bei Männern), Prostatakrebs und Vulvakrebs, aber nicht von Hirntumoren, verbunden (Zhang et al., 2024). Es gab auch einen signifikanten Trend bei der Nutzungsdauer für nicht-melanozytären Hautkrebs und Prostatakrebs (Zhang et al., 2024). Es bestehen jedoch Bedenken hinsichtlich einer Fehlklassifizierung der Exposition, da die Nutzung von Mobiltelefonen nur zu Studienbeginn erfasst wurde. Diese Ergebnisse stimmen nicht mit denen einer landesweiten dänischen Kohortenstudie überein (Schüz et al., 2006).

Die IARC-Monographie, Band 102, stuft Selektions- und Erinnerungsverzerrungen aus Fall-Kontroll-Studien als besonders besorgniserregend ein. Eine zum Zeitpunkt dieser Bewertung verfügbare Verzerrungsanalyse zeigt, dass die beobachtete J-förmige Reaktionskurve in der Interphone-Studie, das ist die größte Fall-Kontroll-Studie zur Nutzung von Mobiltelefonen, die zu den in Band 102 veröffentlichten Erkenntnissen beitrug, mit Selektionsbias erklärt werden könnte, was zu einer Unterrepräsentation nicht exponierter Kontrollen führt (Vrijheid et al., 2009a). Eine kürzlich durchgeführte Verzerrungsanalyse unter Verwendung von Monte-Carlo-Simulationen zeigt, dass die in der Interphone-Studie beobachtete J-förmige Beziehung mit einem Szenario größerer systematischer (> 10 %) und zufälliger Fehler in den Fällen im Vergleich zu den Kontrollen vereinbar war, bei denen keine Wirkung festgestellt wurde (Bouaoun et al., 2024). Validierungsstudien im Rahmen der Interphone-Studie zeigten, dass es kaum zu einer unterschiedlichen Fehlklassifizierung der Exposition zwischen Fällen und Kontrollen kam; bei starken Nutzern war die Überschätzung jedoch bei den Fällen größer als bei den Kontrollen (Vrijheid et al., 2009b).

Krebs bei Versuchstieren

Im Bericht der Beratungsgruppe von 2019 wurde auf die Verfügbarkeit neuer Daten aus der großen US-amerikanischen NTP-Studie hingewiesen, die eindeutige Hinweise auf eine erhöhte Inzidenz von malignen Schwannomen im Herzen (und möglicherweise einige Hinweise auf maligne Gliome im Gehirn) bei männlichen Ratten zeigen, die hochfrequenter Strahlung bei Frequenzen, wie sie von Mobiltelefonen verwendet werden, ausgesetzt waren; bei weiblichen Ratten wurde jedoch kein eindeutig erhöhtes Risiko festgestellt. Es wurden einige zweideutige Anzeichen für ein erhöhtes Auftreten von bösartigen Gliomen im Gehirn, bösartigen Schwannomen im Herzen und Phäochromozytomen im Nebennierenmark beobachtet (NTP, 2018a, b). In einer experimentellen Studie, die am Ramazzini-Institut durchgeführt wurde, wurde bei männlichen Ratten, die der höchsten Dosis ausgesetzt waren, ein erhöhtes Risiko für Schwannome des Herzens festgestellt (Falcioni et al., 2018). Internationale Studien, die darauf abzielen, die NTP-Studien zu verifizieren, werden derzeit in Japan und der Republik Korea durchgeführt und werden für 2024 erwartet (Ahn et al., 2022). Derzeit wird im Rahmen eines WHO-Risikobewertungsprojekts eine systematische Review der Auswirkungen von HF-EMF auf Krebs bei Labortieren durchgeführt (Mevissen et al., 2022).

Mechanistische Beweise

Der Bericht der Beratergruppe von 2019 stellt fest: „Die frühere IARC-Bewertung kam zu dem Schluss, dass es schwache Hinweise darauf gibt, dass hochfrequente Strahlung genotoxisch ist, es aber keine Hinweise auf Mutagenität gäbe (IARC, 2013a).“ Seitdem gibt es viele neue Veröffentlichungen zur Genotoxizität von HF-EMF-Strahlung, darunter auch Studien an exponierten Menschen. In mehreren Studien zu der von Mobiltelefonen emittierten Strahlung wurde die Bildung von Mikronuklei auf Zellen der Wangenschleimhaut nachgewiesen (Rashmi et al., 2020; Revanth et al., 2020). Andere Studien fanden keine Hinweise auf die Bildung von Mikronuklei (de Oliveira et al., 2017) oder keine schlüssigen Beweise für die Induktion von DNA-Schäden oder für Veränderungen der DNA-Reparaturkapazität in menschlichen Zellen, die mehreren Frequenzen von HF-EMF-Strahlung ausgesetzt waren (Schuermann et al., 2020). In anderen Studien wurden keine Auswirkungen der HF-EMF-Exposition auf die Oxidations- oder Antioxidationskapazität, die Apoptose oder Mutationen im TP53-Gen festgestellt, unabhängig von der Frequenz (Khalil et al., 2014; Gulati et al., 2020). Die Autoren einer Metaanalyse, die untersuchen sollte, ob von Mobiltelefonen ausgehende HF-EMF genotoxische oder zytotoxische Auswirkungen auf das orale Epithel haben, kamen zu dem Schluss, dass die Beweise für genotoxische Auswirkungen schwach sind (Dos Santos et al., 2020). In experimentellen Systemen gibt es eine umfangreiche Literatur zu Untersuchungen der Genotoxizität von HF-EMF (Meltz, 2003). Eine Studie zeigte, dass Rattengliome offenbar einige genetische Veränderungen mit IDH1-Wildtyp-menschlichen Gliomen gemeinsam haben, und auch Rattenherzschwannome weisen Mutationen in einigen der untersuchten Krebsgene auf (Brooks et al., 2024). Eine unabhängige systematischer Review zur Genotoxizität von HF-EMF in In-vitro-Säugetiermodellen ist im Gange (Romeo et al., 2021).

Darüber hinaus liegen Erkenntnisse im Zusammenhang mit anderen Krebsarten vor. Beispielsweise kann eine chronische Exposition gegenüber HF-EMF, die von Mobiltelefonen ausgestrahlt wird, bei Ratten oxidativen Stress und eine Entzündungsreaktion auslösen (Singh et al., 2020). Derzeit wird im Rahmen des WHO-Risikobewertungsprojekts ein systematischer Review der Auswirkungen von HF-EMF auf Biomarker für oxidativen Stress in vivo und in vitro durchgeführt (Henschenmacher et al., 2022). Mehrere Studien haben die Immuntoxizität von HF-EMF untersucht (Yadav et al., 2022). Es wurde festgestellt, dass die hochfrequente Strahlung von Mobiltelefonen mit einer Schilddrüseninsuffizienz und Veränderungen der Serum-Schilddrüsenhormonspiegel bei exponierten Menschen und Nagetieren in Verbindung steht, was auf eine mögliche Störung der Hypothalamus-Hypophysen-Schilddrüsen-Achse hindeutet (Alkayyali et al., 2021).

Zusammenfassung

Seit der letzten Bewertung gab es mehrere neue hochwertige Studien. Insgesamt sind die Erkenntnisse über Krebs beim Menschen widersprüchlich. Es gibt neue Hinweise auf Karzinogenität bei Versuchstieren. Seit der letzten Bewertung gibt es neue mechanistische Beweise für die wichtigsten Befunde, insbesondere für die Genotoxizität in experimentellen Systemen und bei exponierten Menschen. Mehrere der Genotoxizitätsstudien an exponierten Menschen lieferten jedoch widersprüchliche Ergebnisse. Daher sind die derzeit verfügbaren mechanistischen Beweise nicht unbedingt schlüssig. Insgesamt könnten die neuen Erkenntnisse über Krebs beim Menschen und bei Versuchstieren eine Neubewertung unterstützen, obwohl eine Änderung der derzeitigen Einstufung der Karzinogenität von HF-EMF ungewiss ist. Die Beratergruppe hält daher eine Bewertung von HF-EMF in den IARC-Monographien für gerechtfertigt, schlägt jedoch eine Bewertung in der zweiten Hälfte der nächsten fünf Jahre vor, um die Ergebnisse der laufenden Krebs-Bioassays abzuwarten, die zusätzliche mechanistische Erkenntnisse liefern könnten.

Empfehlung: Hohe Priorität (bereit für eine Bewertung innerhalb von 5 Jahren)

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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