Neues von Berenis (39): Dezember 2024 (Forschung)

H. Lamarr @, München, Dienstag, 10.12.2024, 17:44 (vor 1 Tag, 17 Stunden, 6 Min.)

Im Zeitraum von Mitte Januar bis Ende April 2024 wurden 84 neue Publikationen identifiziert, von denen acht von Berenis vertieft diskutiert wurden. Fünf davon wurden gemäß den Auswahlkriterien als besonders relevant zur Bewertung ausgewählt, im Folgenden sind sie zusammengefasst. Mit Literaturangaben gibt es den aktuellen Berenis-Newsletter ungekürzt hier.

Experimentelle Tier- und Zellstudien

Millimeterwellen-EMF und Gen-Aktivitäten in Hautzellen (Martin et al. 2024)
Mittels einer Weiterentwicklung von globalen Expressionsanalysen haben die Autorinnen und Autoren dieser Zellstudie (Martin et al. 2024) die Gen-Aktivitätsprofile («Transcriptomics») von Hautzellen nach Exposition mit hochfrequenten EMF im Millimeterwellenbereich (60.4 GHz) untersucht. Bedingt durch die geringe Eindringtiefe von EMF in diesem Frequenzbereich sind in erster Linie die Haut und die Augen von Millimeterwellen-Exposition betroffen, weshalb in dieser Studie der Fokus auf einen der Zelltypen der Haut, den Keratinozyten, gelegt wurde. Eingesetzt wurden einerseits eine etablierte Zelllinie (HaCaT-Zellen) sowie primäre Keratinozyten von Spendern (HEK- und NHEK-Zellen), deren Genaktivitätsmuster sich unter Sham-Expositionsbedingungen unterscheiden liessen. Von den rund 17'000 detektierten Genen waren 200 bis 1'100 (je nach Vergleich) mehr als 1.5-fach und statistisch signifikant verändert. Die Exposition der Zellen mit 60.4-GHz-EMF bei 20 mW/cm² Leistungsdichte (entsprechend dem ICNIRP-Grenzwert für kurzfristige berufliche Exposition) für 3 Stunden hingegen zeigte nur wenige Expressionsveränderungen (HaCaT: 14; HEK: 4; NHEK: 0), die zudem grösstenteils auch in den Kontrollbedingungen auftraten, in denen die Millimeterwellen-EMF-bedingten Temperaturerhöhungen (ca. 4.5 °C) simuliert wurden. Das gleiche Bild zeigte sich auch in Experimenten in HaCaT-Keratinozyten mit den tieferen Expositionen (5 und 10 mW/cm², entsprechend den ICNIRP- Grenzwerten für lokale Hautexposition für die Bevölkerung). Die regulierten Gene und die Aktivitätsprofile von rein thermisch und 60.4 GHz-exponierten Zellen waren sehr ähnlich. Im Weiteren wurde gezeigt, dass eine längere Exposition von 14 Stunden (10 mW/cm² in HaCaT-Keratinozyten) zu keinen stärker ausgeprägten Veränderungen der Genaktivität führte.

Die Forschenden schlussfolgern aus ihren gut kontrollierten und nachvollziehbaren Genaktivitätsanalysen, dass es in Keratinozyten der Haut keine Hinweise auf athermische Effekte der Exposition mit Millimeterwellen-EMF gibt. [...]

Genetisches Profil von Hirntumoren (Gliome) und Herztumoren (Schwannome) bei Ratten, die lebenslang HF-EMF-exponiert waren (Brooks et al. 2023)
In der Studie von Brooks et al. (2024) wurden Auswertungen von genetischen Profilen von seltenen Tumoren wie Gliomen und Herz-Schwannomen gemacht, die bereits in der Ramazzini-Studie beschrieben wurden (siehe Newsletter 15 und Newsletter-Sonderausgabe November 2018). Ziel dieser Arbeit war es, sogenannte „Mutations-Hot Spots“ in Genen zu analysieren, die in die Entstehung dieser Tumoren involviert sind und auch in der Krebsentstehung beim Menschen bekannt sind. [...] Das Auftreten von Mutationen wurde mittels Sequenzierung des Genoms analysiert.

Die Resultate zeigen, dass Gliome der Ratten einem Stadium entsprechen, das als „low grade“ Gliome beim Menschen bezeichnet wird. Mutationen in den „Hot Spots“ mit Homologie der assoziierten Gene beim Menschen wurden nicht identifiziert. In den positiven Kontrollen (Ratten mit chemischer Exposition) wurden genetische Veränderungen gefunden, die einem Tumortyp ähnlich sind, der beim Menschen auftritt. In den Herz-Schwannomen der Ratten wurden genetische Veränderungen gefunden, die ähnlich einem Tumortyp sind, der beim Menschen auftritt. Es wurden jedoch keine Aussagen gemacht, dass es Unterschiede zwischen den genetischen Profilen von Tumoren der Kontrollgruppe oder der HF-EMF-exponierten Ratten gab. Die Daten zeigen, dass das Sequenzieren bekannter Gene, die in die Krebsentstehung beim Menschen involviert sind, ein wichtiges Instrument ist, um die translationale Relevanz von Tumoren bei Versuchstieren solcher Lebenszeit-Studien zu bestimmen und damit die Übertragbarkeit der Befunde für die menschliche Gesundheit abschätzen zu können.

Darm-Mikrobiota, neuronaler Zelltod und Angstverhalten von Mäusen nach 3.5 GHz HF-EMF- Exposition (Zhou et al. 2024)
In der Studie von Zhou et al. (2024) wurde der mögliche Zusammenhang zwischen Effekten von HF- EMF (3.5 GHz) auf das Angstverhalten und dem Darmmikrobiom („Darm-Hirnachse“) bei männlichen Mäusen (Stamm C57BL/6J) untersucht. Insbesondere wurde ein Mechanismus untersucht, der ähnlich der Apoptose ist: die Pyroptose. Diese ist eine entzündliche Form des Zelltodes, die auch zur Freisetzung von Zytokinen (Zellbotenstoffe) führt, die Entzündung triggern. Bei neurologischen Erkrankungen wie Alzheimer tritt beispielsweise eine Entzündung von Neuronen auf. Die Mäuse wurden in einer Plexiglasbox mit 3.5 GHz-Pulswellen bei 50 W/m² für 1 Stunde pro Tag an insgesamt 35 Tagen exponiert. Die Box wurde 70 cm von der Antenne entfernt platziert. Im Vergleich zu Kontrolltieren wurde bei den HF-EMF-exponierten Mäusen vermehrt Angstverhalten festgestellt, was mit Auftreten von Pyroptose in der Hirnregion Hippocampus einherging, abhängig von einem Rezeptor (NLRP3) im Gehirn. Dieser Rezeptor ist Teil des angeborenen Immunsystems und erkennt molekulare Muster, die von Pathogenen ausgehen. Die Zusammensetzung der Bakterien im Darm (Mikrobiom) war in HF-EMF-exponierten Mäusen im Vergleich zu Kontrollen äusserst unterschiedlich. [...]

Die Autoren spekulieren über einen möglichen Mechanismus bezüglich der Darm-Hirnachse: HF-EMF- Exposition induziert Pyroptose von Neuronen im Hippocampus und eine Veränderung der Darmflora, was unter anderem zu metabolischen Erkrankungen führen könnte. Es ist ein interessanter Ansatz, aber es braucht noch sehr viel mehr Forschung, um dahingehend konklusive Aussagen machen zu können.

Epidemiologische Studien

Handynutzung, Hirntumorrisiko und Kopfschmerzen - eine prospektive Kohortenstudie (COSMOS) (Traini et al. 2024, Feychting et al. 2024a)
Die noch laufende und länderübergreifende COSMOS-Studie ist die bisher grösste prospektive Studie zur Mobiltelefon-Nutzung über die gesamte Lebensdauer und ihre möglichen gesundheitlichen Auswirkungen. Die an der Studie teilnehmenden Personen wurden zwischen 2007 und 2012 rekrutiert. Aus der ersten Nachbeobachtungsphase von 2015 bis 2018 wurden nun Ergebnisse hinsichtlich Zusammenhängen mit Kopfschmerzen (Traini et al. 2024) und Hirntumoren (Feychting et al. 2024a) veröffentlicht.

In der Studie bezüglich Kopfschmerzen (Traini et al. 2024) wurden für Teilnehmende in den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich die wöchentliche Häufigkeit von 1) Kopfschmerzen, 2) starken Kopfschmerzen, 3) die tägliche Häufigkeit von Kopfschmerzen und 4) die Diagnose von Migräne in Zeitraum der Nachbeobachtungsphase untersucht. Dazu wurde die Gesprächsdauer mit Mobil- und Schnurlostelefonen betrachtet und die Nutzung in vier Kategorien von «sehr gering» (weniger als 19.1 min/Woche) bis «hoch» (über 107.8 min/Woche) eingeteilt. Die Verwendung von Freisprecheinrichtungen wurde hierbei berücksichtigt. Bei der Analyse wurden wichtige Einflussfaktoren wie Bildung, allgemeiner Gesundheitszustand und Schlafstörungen berücksichtigt. Die Studie fand signifikante negative Zusammenhänge für (starke) wöchentliche Kopfschmerzen und Migränediagnosen. Diese Zusammenhänge waren allerdings nicht mehr feststellbar, als die Autoren zusätzlich die gesendeten Textnachrichten berücksichtigten. Die Anzahl der Textnachrichten wurde als Indikator für die Telefonnutzung (Bildschirmzeit) mit vernachlässigbarer HF-EMF-Exposition betrachtet. Da die Zusammenhänge in Bezug auf Anzahl der Textnachrichten im Allgemeinen robuster waren als in Bezug auf die Gesprächsdauer, schlussfolgern die Autoren, dass wahrscheinlich andere Faktoren als HF-EMF für die vermehrt wahrgenommenen Kopfschmerzen bei Mobiltelefonnutzenden verantwortlich sind.

Eine genaue Abschätzung der HF-EMF-Exposition durch Mobiltelefone ist in grossen Kohorten äusserst schwierig, so auch in dieser grössten prospektiven Studie über den Zusammenhang zwischen Mobiltelefonnutzung und Kopfschmerzen. Die prospektive Expositionsabschätzung ist eine Stärke der Studie, aber die Autoren räumen ein, dass die HF-EMF-Dosis stark von der Sendeleistung des Geräts, den Geräteeigenschaften, der Art der Nutzung, der Position des Geräts relativ zum Körper und persönlichen Faktoren abhängt. Diese Faktoren können in solch grossen Kohorten realistischerweise nicht berücksichtigt werden.

In der Studie bezüglich Hirntumoren (Feychting et al. 2024a) mit einer mittleren Nachbeobachtungszeit von sieben Jahren wurden 149 Gliom-, 89 Meningiom- und 29 Akustikusneurinom-Fälle erfasst, wobei 264'574 Personen in fünf Ländern (Dänemark, Finnland, Niederlande, Schweden und Vereinigtes Königreich) mit insgesamt 1'836'479 Personenjahren eingeschlossen waren. Ähnlich wie in der Studie zu Kopfschmerzen wurde die Exposition auch hier als kategorisierte Anzahl der kumulativen Gesprächsstunden betrachtet, die von «niedrig» (<464 Stunden, der Median) bis «hoch» (≥1062 Stunden, ≥75. Perzentil) reichten. In der Studie wurden Cox-Regressionsmodelle verwendet, ein typisches statistisches Verfahren zur Untersuchung des möglichen Zusammenhangs zwischen der Exposition und der Zeit bis zur Krebsdiagnose (falls diese überhaupt gestellt wird). Die Analysen berücksichtigten mögliche Unterschiede bezüglich Faktoren wie Land, Geschlecht, Bildungs- und Familienstand, und auch das Alter als der Hauptrisikofaktor für Krebsentstehung. Es wurde kein Zusammenhang zwischen mässiger oder hoher Mobiltelefonnutzung und dem Auftreten einer der Krebsarten festgestellt.

Dieses Ergebnis deckt sich mit früheren Studien mit kleineren Kohorten und auch mit generellen Beobachtungen, wonach es keinen Trend zu einer Zunahme von Hirntumordiagnosen gegeben hat, seit Mobiltelefone allgegenwärtig geworden sind. Die Ergebnisse stimmen auch weitgehend mit denen der «Interphone»-Studie überein, obwohl dort für die höchste Expositionskategorie ein Effekt gefunden wurde, wobei deren Exposition stark überschätzt wurde. Die Feychting-Studie wurde in einem Leserbrief von Moskowitz et al. (2024) kritisiert. Es wurde unter anderem bemängelt, dass keine "nicht-exponierte" Kontrollgruppe einbezogen wurde, was Feychting et al. (2024b) für nicht durchführbar hielten, weil nicht exponierte Personen kaum eine repräsentative Gruppe darstellen würden, da quasi die gesamte Bevölkerung exponiert ist. Ebenso hatten Moskowitz et al. verlangt, dass alle Studiendaten offengelegt werden, was aufgrund von Datenschutzvorgaben nicht möglich ist. Moskowitz et al. weisen auch darauf hin (und Feychting et al. (2024b) erkennen dies an), dass die in dieser Studie untersuchten Hirntumorarten extrem selten sind und die Expositionsabschätzung - fast zwangsläufig und ähnlich wie bei der Kopfschmerzstudie - mit grosser Unsicherheit behaftet ist. Es sei daher unwahrscheinlich, dass ein signifikanter Zusammenhang gefunden würde, selbst wenn ein Zusammenhang bestünde. Die Autoren weisen darauf hin, dass es sich hierbei um die erste Nachbeobachtung im Rahmen der laufenden COSMOS-Studie handelt, und dass die statistische Aussagekraft zum Nachweis eines etwaigen Zusammenhangs bei künftigen Nachbeobachtungen höher sein wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Krankheitslast für die Gesamtbevölkerung durch diese Tumoren extrem gering ist, da nur relativ wenige Personen betroffen sind, und der Anteil, der auf HF-EMF-Exposition zurückzuführen sein könnte, wahrscheinlich vernachlässigbar ist, insbesondere im Vergleich zu anderen Krebsarten und deren Zusammenhang mit Umweltfaktoren.

Weitere Publikationen zur Information

EU-Bericht zum Gesundheitsrisiko von EMF im Frequenzbereich 1 Hz bis 100 kHz Im Auftrag der EU wurde vom Scientific Committee on Health, Environmental and Emerging Risks (SCHEER) ein Bericht zum Gesundheitsrisiko von EMF im Frequenzbereich 1 Hz bis 100 kHz erstellt. Nachdem die vorläufige Fassung von November 2023 bis Januar 2024 zunächst zur öffentlichen Diskussion gestellt worden war, ist mittlerweile der vollständige Bericht veröffentlicht worden.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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