Warum "Schutzzonen" für "Elektrosensible" Unsinn sind (Elektrosensibilität)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 22.01.2017, 20:28 (vor 2871 Tagen)

Wenn es darum geht, die Anzahl angeblicher "Elektrosensibler" mit konkreten Zahlen zu benennen, wird gelogen, dass sich die Balken biegen. Und zwar ausnahmslos in eine Richtung: Die Anzahl wird immer viel zu hoch angegeben. Beliebte Tricks dieses Ziel zu erreichen sind uminterpretierte Umfrageresultate, die Nennung von Fantasiezahlen oder dilettantische Hochrechnungen. Erst kürzlich log der deutsche Vorzeige-"Elektrosensible" Uli Weiner im Fernsehen frech, das Bundesamt für Strahlenschutz spreche von 9,8 Prozent (10 Prozent) "Elektrosensiblen" in der Bevölkerung – mit starkem Anstieg. Tatsächlich ist die Anzahl überzeugter Elektrosensibler nur sehr klein, was auch daran liegt, dass kein seriöser Arzt diese ungewollte Eigenschaft, die es objektiv nicht gibt, diagnostizieren kann.

Wie klein die Anzahl überzeugter Elektrosensibler wirklich ist, weiß niemand genau, ich schätze sie in Deutschland auf ein paar Hundert, Ansteckungsweg ist das Internet und die Boulevardpresse, von einem Anstieg, geschweige denn einem starken, ist weit und breit nichts zu bemerken. Dieses Märchen vom Anstieg wird seit eh und je allein an den Lagerfeuern der Elektrosensiblen erzählt. Es weckt Hoffnungen.

In der Gegenrichtung hingegen gibt es durchaus Belege dafür, dass gefühlte "Elektrosensibilität" (EHS) nur eine Randerscheinung ist, die bevorzugt in Wohlstandsgesellschaften auftritt. Dazu ein Beispiel:

Eine vielköpfige Arbeitsgruppe um Toshiaki Furubayashi, Universitätsklinik Tokio, erforschte 2008 mit einer Fall-Kontroll-Studie "Elektrosensibilität" und kam zu dem Ergebnis, selbstdiagnostizierte elektrosensible Probanden reagieren auf Ganzkörperbefeldung (UMTS, 11 V/m) kein bisschen anders als die nicht-elektrosensiblen Kontrollen. Nämlich gar nicht. Vom Ergebnis her ist diese Studie also kaum der Rede wert, denn dieses Ergebnis war zu erwarten. Bemerkenswert ist jedoch die Prodandenselektion, die Furubayashi im Volltext seiner Arbeit genauer beschreibt und die an den Zählreim von den "10 kleinen Negerlein" erinnert:

Die Wissenschaftler verschickten zur Teilnehmerakquise einen Fragebogen an 5000 im Einwohnermeldeamt zufällig ausgewählte Frauen (Frauen, weil diese häufiger an EHS Gefallen finden als Männer). Die Rücklaufquote erreichte mit 62,3 % einen guten Wert (3116 Antworten). Aus diversen Gründen mussten 110 Antworten verworfen werden, so dass unterm Strich 3006 verwertbare Antworten (Probanden) übrig blieben.

Von den 3006 gültigen Antworten gaben 84,8 % an, momentan ein Handy zu besitzen und zu gebrauchen, 1,6 % gaben an, kein Handy zu besitzen (hatten aber mal eines), 7,1 % wollten noch nie ein Handy gebraucht haben, der Rest gab über seine Handy-Historie keine Auskunft.

Jetzt griffen weitere Ausschlusskriterien: Wer einen Herzinfarkt hatte, unter Epilepsie oder Ähnlichem litt oder ständig Medikamente einnehmen musste schied aus. Durch dieses Sieb kamen 2472 Personen hindurch, sie bildeten das Reservoire der möglichen Studienteilnehmer (Fälle und Kontrollen). Wer Fall war und wer Kontrolle entschieden die Antworten auf den Fragebogen, in dem z.B. auch gefragt wurde, wie häufig man sich von Handy/Basisstation beeinträchtigt sehe (Skala von 0=nie bis 4=ständig).

Unter den 2472 potentiellen Studienteilnehmern befanden sich schlussendlich 29 (1,2 %), die ihren Gebrauch von Handys mit gesundheitlichen Problemen in Verbindung brachten (Gruppe 1) und damit der WHO-Definition von EHS entsprächen. Weitere 34 potentielle Studienteilnehmer berichteten von einer gefühlten Beeinflussung durch Mobilfunk, hielten diese jedoch für nicht gesundheitlich relevant (Gruppe 2). Insgesamt fanden die Wissenschaftler also 63 (2,5 %) überzeugte "Elektrosensible", gemäß WHO-Definition sogar nur 1,2 %. Würde die Behauptung von Uli Weiner stimmen (10 %) und sich deutsche Verhältnisse auf Japan übertragen lassen, hätten es nicht 29 oder 63, sondern ungefähr 247 überzeugte "Elektrosensible" sein müssen.

Für die Teilnahme an der Studie ausgewählt wurden schließlich elf Fälle, drei aus Gruppe 1 und acht aus Gruppe 2. Diese Fälle wurden mit 43 Kontrollen verglichen, die unter EMF-Einwirkung eigenen Angaben zufolge keinerlei Beeinträchtigungen an sich feststellten.

Wie die Probanden unter EMF-Einwirkung reagierten, dies wurde mit der Erfassung psychologischer und kognitiver Parameter und der Beobachtung vegetativer Körperfunktionen ermittelt. So wurden die Teilnehmer während des Versuchs gefragt, ob sie sich momentan befeldet sähen oder nicht und wie das momentane Befinden sei. Die Fälle konnten eine Befeldung nicht besser "fühlen" als die Kontrollen, zeigten während des Experiments jedoch ein signifikant höheres Unhagen, unabhängig davon, ob sie befeldet waren oder nicht. Die beobachteten vegetativen Körperfunktionen der Fälle zeigten keine Reaktion auf eine Befeldung.

Fazit: Von den elf Fällen (überzeugte Elektrosensible) war keiner imstande, unter strenger wissenschaftlicher Aufsicht seine gefühlte Fähigkeit zur Feldwahrnehmung schwacher elektromagnetischer Felder unter Beweis zu stellen. Keiner der elf überzeugten Elektrosensiblen ist ein "echter" Elektrosensibler, unter wissenschaftlicher Kontrolle verdampfen selbstdiagnostizierte "Elektrosensible", egal wie viele Prozent Anteil sie angeblich an einer Gesellschaft haben, restlos auf Null. Die Studie bestätigt: "Elektrosensibilität" ist eine psychische Erkrankung, keine physische. Und dies hat für großspurig auftretende "Elektrosensible" wie Uli Weiner gravierende Folgen. Denn in seinem jüngsten TV-Auftritt (Nachtcafe) trägt der Mann im Schutzanzug eine widersinnige Forderung vor, die bevorzugt von "Elektrosensiblen" in Europa bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit propagiert wird: Sie verlangen von elektromagnetischen Feldern garantiert freie "Schutzzonen", in denen "Elektrosensible" unbehelligt leben könnten.

Furubayashi et al. halten dem im Schlusswort zu ihrer Studie entgegen:

As suggested by Rubin et al. [2006], therefore, the results do not suggest that attempting to reduce exposure to mobile phone signals will be a useful strategy for patients who report sensitivity to them.

(Wie bereits von Rubin et al., 2006, empfohlen, weist auch unsere Studie darauf hin, dass eine Reduzierung der Exposition selbstdiagnostizierter Elektrosensibler kein erfolgversprechender Weg für derartige Patienten ist).

Der Zusammenhang ist offenkundig: Wenn wissenschaftliche Studien reihenweise belegen, dass "Elektrosensible" Funkfelder nicht besser oder schlechter "fühlen" können als Hinz und Kunz, dann ist die Einrichtung von "Reservaten" für Elektrosensible eine zu 100 Prozent wirkungslose Maßnahme. Der angebliche Wirtschaftsfaktor "EHS-Reservat" in strukturschwachen Regionen würde auf dem Irrglauben von Betroffenen beruhen, derartige Projekte würden in kurzer Zeit implodieren.

Hintergrund
De-Exposition/Schutzzonen für Elektrosensible keine Lösung

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Unterstellung, Funkloch, Scharlatan, Elektrochonder, Reservate, Psychische Erkrankung, wirkungslos, Feldwahrnehmung, De-Exposition


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