Städtisches Gratis-W-LAN ausgerechnet in Stuttgart (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 22.09.2013, 00:29 (vor 4090 Tagen)

Für Diagnose-Funk muss das wie eine Provokation sein: Stuttgart arbeitet daran, seine Innenstadt unentgeltlich mit W-LAN zu versorgen. Im April schrieben die Stuttgarter Nachrichten noch abwartend: Drei mögliche Konzepte werden derzeit von der Stuttgarter Wirtschaftsförderung geprüft, hieß es im Februar 2013, bis heute gibt es hierzu jedoch noch keine weiterführenden Erkenntnisse. Zudem wird erste Kritik über das City-WLAN laut: Einige befürchten eine noch stärkere Belastung durch Elektrosmog.

Jetzt, im September, scheinen die Würfel gefallen zu sein. Das Stuttgart Journal berichtet:

Es gilt regionale IT-Firmen ins Boot zu holen, sowie geeignete Standorte („Accesspoints") für WLAN-Router zu finden, die den kabellosen Internetzugang durch eine Funkverbindung möglich machen. Auch der möglichen Nebenwirkung einer verstärkten Belastung durch Elektrosmog wird nachgeforscht. „Wir prüfen derzeit die verschiedenen Stuttgarter WLAN-Modelle", sagt Wirtschaftsförderin Ines Aufrecht. Ihr Mitarbeiter Sebastian Reutter ergänzt: „Mitte Herbst werden wir Ergebnisse präsentieren." Dann wird wohl mit einem für alle verfügbaren WLAN im Jahr 2014 zu rechnen sein…

Während in Stuttgart erst die Planungen laufen, ist man in Pforzheim beim Thema WLAN bereits viel weiter. „Die Leute rennen uns die Bude ein", freut sich Erwin Geisler, der Projektleiter der Medien-/IT-Initiative Pforzheim. Der Zusammenschluss neun regionaler Firmen hat seit dem 4. September dieses Jahres ermöglicht, dass alle Pforzheimer mit ihrem Smartphone und Laptop kostenlos das Internet benutzen können. Die Firmen erhoffen sich dadurch, den benachbarten Städten Stuttgart und Karlsruhe IT-Fachkräfte „auszuspannen". Um das Netz zu nutzen muss man sich lediglich bei der Initiative registrieren. Mittlerweile haben dies bereits mehrere tausend Kunden getan. „Täglich werden es 300 Leute mehr", freut sich Geisler über den positiven Andrang.

Und weiter schreibt das "Stuttgart Journal" zur Funkimmission: Die Universität Bremen hat auf Ihrem Campus zu Forschungszwecken ein dichtes Netz von „WLAN-Accesspoints" eingerichtet. Im Jahr 2001 hat sie ein Gutachten "zur Feststellung der Belastung durch hochfrequente elektromagnetische Strahlung durch Funk-Netzwerke" anfertigen lassen. „Im Gegensatz zu Mobiltelefonen sind WLAN-Produkte nicht leistungsgeregelt, die Basisstationen der Systeme senden permanent, auch wenn gar keine Nutzdaten übertragen werden. An einem Notebook ergab sich im Abstand von 1,50 Meter ein Messwert von 1.580 mWatt/m2, im Abstand von 0,10 Metern ein erschreckender Wert von 49.960 mWatt/m2", heißt es dort.

Kommentar: Das erwähnte steinalte Gutachten für die Uni Bremen steht hier als Volltext zur Verfügung (PDF, 36 Seiten, deutsch). Die genannten Messwerte lassen sich dort in Tabelle 6 wiederfinden. Die Formulierung "ein erschreckender Wert von ..." nennt das Gutachten dagegen nicht, das Stuttgart Journal hat sie hinzu erfunden, wie die anderen zitierten Passagen aus dem Gutachten auch. Schlimmer ist: Das Gutachten wurde von Dr. Nießen, damals Nova-Institut, angefertigt. Dr. Nießen ist bekennender Mobilfunkkritiker, dies äußert sich in dem Gutachten in der Wahl der Messmethode, die sich nicht an der Vorgabe der 26. BImSchV orientiert, sondern am Vorgehen von Baubiologen, die an möglichst hohen Messwerten interessiert sind. Die Messwerte des Gutachtens sind daher aus zwei Gründen abzulehnen: a) sind sie keine Effektivwerte, sondern Spitzenwerte (nur so kommen die hohen Werte zustande) und b) haben die genannten hohen Werte mit W-LAN-Basisstationen - wie sie in Stuttgart geplant sind - nichts zu tun, sie gelten ausschließlich für ein 2001 getestetes Notebook, das in dem Gutachten nicht näher spezifiziert ist.

Die Uni Bremen hat augenscheinlich keine finanziellen Sorgen. Anders ist es mMn nicht zu erklären, wieso im Rahmen einer Betriebsvereinbarung mit dem Personalrat seit 2001 zur hellen Freude eines Kölner Instituts noch zwei weitere - überflüssige - Gutachten (2004 und 2010) von der gleichen Quelle eingeholt wurden, mit dem "überraschenden" Ergebnis, dass die Grenzwerte weit unterschritten würden. Auch so kann Geld zum Fenster rausgeworfen werden. Und Dr. Nießen bringt es fertig, in seinem Gutachten von 2010 auch den sogenannten "neuen Salzburger Vorsorgewert" aus dem Jahr 2002 (1 µW/m²) zu erwähnen. Dieser Vorsorgewert ist im Gegensatz zum alten Salzburger Vorsorgewert, der das Ergebnis einer Wissenschafler-Konferenz war, die persönliche Einschätzung einer einzigen Person, nämlich von Dr. Gerd Oberfeld.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Stuttgart, Nießen, Gutachten, W-LAN, Baden-Württemberg, Steuerverschwendung, Messwerte, Access Point, Smartphone, Nova-Institut


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