Waldmann-Selsam: Bamberger Baumgenesung, wundersame (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Mittwoch, 18.06.2025, 12:28 (vor 1 Tag, 12 Stunden, 30 Min.)

Anno 2012 alarmierte Dr. med. Cornelia Waldmann-Selsam mit einem Brief den Stadtrat zu Bamberg. Die Entwicklung sei ernst, schrieb die Wanderärztin und meldete den Honoratioren der Stadt die Zunahme schwerer Baumschäden im Strahlungsfeld von Mobilfunksendeanlagen, fein säuberlich belegt mit Fotos. Anno 2025 präsentiert sich nun eines der vermeintliche längst zu Sägemehl verarbeiteten grünen Strahlenopfer allerdings quicklebendig im dichten Blätterkleid.

Waldmann-Selsams Brandbrief wurde von der Bamberger Onlinezeitung konserviert, sodass man sich dort die alarmierenden Fotos von anscheinend todgeweihten Bäumen anschauen kann.

Zwei Bäume, ein Problem

Die drei Fotos, um die es hier und jetzt geht, sind auf Seite zwei des Briefs zu sehen. Sie zeigen die "Obere Brücke" im Stadtzentrum aus Bodenperspektive mit Blickrichtung Osten. Zur Orientierung mag die steinerne "Kreuzigungsgruppe" in der Mitte der Brücke dienen. Hinter der Gruppe sind in den Fotos zwei hohe Bäume zu erkennen, Waldmann-Selsam identifizierte sie als Ahorn (in den Fotos mutmaßlich der linke Baum) und Hainbuche. Wir müssen ihr das glauben, die Auflösung der Fotos ist viel zu schlecht, um sich selbst ein Bild machen zu können.

Waldmann-Selsam dokumentierte den Zustand der beiden Bäume über drei Jahre hinweg. Das erste Foto datiert vom 13. Oktober 2009 und bescheinigt im Bildtext den Gewächsen, noch dicht belaubt zu sein. Warum die selbsternannte Baumpathologin bei diesem unauffälligen Befund als Beweismittel überhaupt ein Foto machte, ist nicht selbsterklärend. Denn sie konnte zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, was den kräftigen Bäumen noch widerfahren würde. Es sei denn, sie wusste etwas, was alle anderen noch nicht wussten ... :-).

Im zweiten Foto vom 4. Oktober 2011 ist das Blätterkleid beider Bäume sichtbar weniger dicht, einige Äste sind wohl abgestorben und im dritten Foto vom 4. Mai 2012 bietet die Baumgruppe mit den herausgeschnittenen toten Ästen, was an vielen Stellen den Blick auf blauen Himmel freigibt, ein wahrhaft trauriges Bild.

Den Tätern auf der Spur

Als Täter machte Waldmann-Selsam zwei Mobilfunk-Dachstandorte auf dem rd. 140 Meter von den Bäumen entfernt gelegenem Vermessungsamt in der Straße Schranne 3 aus. Bestückt waren die Funkmasten mit zwölf Sektorantennen, von denen zwei in Richtung Brücke abstrahlten. Den Abstand zwischen den Funkmasten und den fraglichen Bäumen habe ich zentimetergenau mit Google Earth gemessen. Waldmann-Selsam wünschte sich die Funkmasten möglichst nahe herbei, sie beziffert den Abstand daher 20 Meter kürzer als er tatsächlich ist. Um ihre Täterhypothese zu erhärten, führte die Ärztin am Tatort der Baummeuchelung HF-EMF-Messungen mit einem Hobby-Messgerät aus bayerischer Produktion durch. In Bodennähe, dort wo die Bäume einst aus dem Erdboden sprießten und gen Himmel strebten, hat sie nur 30 µW/m² gemessen, weil ein Brückenpfeiler die Funkwellen kräftig dämpfte. Etwas weiter oben und weniger geschützt waren es schon 200 µW/m², doch wegen der dort noch immer schwachen Funkeinwirkung waren die Bäume untenrum im Funkschatten aus Sicht der Ärztin gesund. Obenrum auf der Brücke mit Sichtkontakt zu den Antennen sollen es dann mörderisch entblätternde 8'000 µW/m² gewesen sein. Für die passionierte Mobilfunkgegnerin war damit die Täterschaft der Mobilfunkantennen hinreichend belegt.

Als gelernter Nachrichtentechniker habe ich allerdings beträchtliche Zweifel an den HF-EMF-Messkünsten der Humanmedizinerin. Denn das Messgerät der Ärztin misst breitbandig und nicht frequenzselektiv, es kann deshalb den Downlink von den Antennen der Dachstandorte nicht von den Uplinks beliebiger Mobiltelefone unterscheiden, die auf der Brücke in Betrieb sind. Heißt im Klartext: Die 8'000 µW/m², die Waldmann-Selsam den beiden 140 Meter entfernten Dachstandorten in die Schuhe schieben möchte, sind mit großer Wahrscheinlichkeit eher von den Mobiltelefonen der Touristen verursacht worden, die sich gerne auf der historischen Brücke aufhalten. Sollte dies zutreffen, was mit einer qualifizierten frequenzselektiven Messung feststellbar wäre, scheiden die beiden Mobilfunk-Dachstandorte als Täter aus und Waldmann-Selsam müsste einpacken.

Das Wunder von Bamberg

Der Anblick der beiden zerfledderten Bäume in Bambergs Innenstadt weckte in mir spontan das Bedürfnis, an Ort und Stelle nachzuschauen, wie die Bäume dort jetzt, 13 Jahre später aussehen. Dafür von München extra nach Bamberg reisen, wäre ökologisch jedoch eine Sünde gewesen. Die Lösung: Google Streetview. Also startete ich Google Maps, suchte damit in Bamberg die "Obere Brücke" auf und fischte mir aus den dort angebotenen Panoramafotos ein Aktuelles heraus, das den Ort der Baummeuchelung gut zeigt. Das Foto vom Mai 2025 ist zwar aus einer etwas anderen Perspektive aufgenommen worden, als die Waldmann-Selsam-Fotos, dafür zeigt es das, worauf es ankommt, deutlicher.

Baum in Bamberg: 2012 sah er noch aus wie ein gerupftes Huhn, 2025 ist er vital und stattlich
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Bild: Norbert Rau

Ich sehe auf dem Foto einen prächtigen, dicht belaubten Ahorn, der mit dem zuletzt von Waldmann-Selsam fotografierten Kümmerling nichts mehr gemein hat. Wie ist das möglich, wurden 2012 in Bamberg die Funkmasten auf dem Vermessungsamt stillgelegt? Natürlich nicht, im Gegenteil, mit LTE und 5G dürften viele neue Standorte hinzugekommen sein. Die 2012 ebenfalls kümmernde Hainbuche ist auf dem aktuellen Foto allerdings nicht mehr zu sehen. Sie hat sich offensichtlich nicht mehr erholt und wurde gefällt. Möglicherweise war diese Ausschaltung eines Konkurrenten um Nährstoffe die Rettung des Ahorns, denn beide Bäume standen dicht nebeneinander auf einer dafür viel zu schmalen Landzunge im Wasser des Linken Regnitzarms.

Was auch immer dem besagten Ahorn im Stadtzentrum von Bamberg ab 2009 angetan wurde, das Foto von 2025 macht mMn zweifelsfrei deutlich, dass der Baum nicht unter Mobilfunkstrahlung gelitten haben kann. Denn die Funkwellen sind weiterhin zugegen, wahrscheinlich stärker denn je, der Baum aber präsentiert sich davon unbeeindruckt gesund im dichten Blätterkleid.

20 Jahren Rosinenpickerei

Wer sich die Gegend um den Tatort herum aus der Vogelperspektive anschaut, dem springt noch eine weitere systemische Schwäche von Waldmann-Selsams Bildbänden mit angeblich mobilfunkkranken Bäumen ins Auge. Die Ärztin betreibt seit etwa 20 Jahren Rosinenpickerei, indem sie gezielt nur kranke Bäume im Umkreis von Mobilfunkantennen dokumentiert.

In Bamberg standen am Tatort jedoch nicht nur ein Ahorn und eine Hainbuche, sondern viele andere Bäume, die teilweise von den beiden Dachstandorten sogar noch stärker bestrahlt wurden. Für Waldmann-Selsam jedoch waren alle diese Bäume uninteressant. Denn sie zeigten mutmaßlich keine auffälligen Schäden, die sich irgendwelchen Mobilfunkantennen, egal ob fern oder nah, in die Schuhe schieben lassen.

Das selektive Vorgehen ist dilettantisch und führt wegen des links liegen gelassenen Verzerrungsrisikos zu wissenschaftlich unbrauchbaren Ergebnissen. Der Wanderärztin ist die Kritik an ihren "Baumstudien" lange bekannt, dennoch lässt sie nicht davon ab und verfolgt ihre Lebensaufgabe unverändert weiter. Anscheinend hat sie kein Interesse an einer wissenschaftlichen Vorgehensweise, ihr genügt die Anerkennung, die sie bei Vorträgen, organisiert von anspruchslosen Mobilfunkgegnern, von anderen Laien bekommt. Hilfreich ist dabei ihr Doktortitel, der ihre Zuhörer eine kompetente Referentin erwarten lässt.

Hintergrund
Tiefer Fußabdruck von Waldmann-Selsam im IZgMF-Forum

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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