Kritische Anmerkungen zur Nilsson-Alarmmeldung (I) (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 02.11.2014, 00:13 (vor 3678 Tagen) @ H. Lamarr

Hintergrund
Alarmartikel Mona Nilsson vom 20. Oktober 2014 (PDF, 6 Seiten, deutsch)

1. Die Behauptung von Hirntumoren „unbekannter Art“ ist falsch

Das Werk startet mit der Behauptung:

Seit 2008 werden in Schweden zunehmend Patienten mit einem Hirntumor „unbekannter Art“ behandelt ...

Damit wird der Eindruck erweckt, seit 2008 gäbe es eine neue unbekannte Art von Hirntumor. Und natürlich ist klar, auch wenn es nicht ausgesprochen wird, wer an diesen unheimlichen neuen Tumoren schuld ist: Mobilfunk, was sonst.

Ein paar Zeilen später in dem Alarmartikel ist der "Hirntumor 'unbekannter Art'" allerdings plötzlich nicht mehr ganz so unbekannt, sondern ein Tumor D43 nach ICD-10-Klassifizierung.

Aha. Schauen wir einmal nach, was es mit diesen D43-Tumoren auf sich hat: "In den Kategorien D37-D48 sind Neubildungen mit unsicherem oder unbekanntem Verhalten nach ihrem Ursprungsort klassifiziert, d.h. es bestehen Zweifel daran, ob die Neubildung bösartig oder gutartig ist. Solchen Neubildungen ist in der Klassifikation der Morphologie der Neubildungen der Malignitätsgrad /1 zugeordnet."

Aus dem "Hirntumor unbekannter Art" (im Original "of unknown nature") wird also etwas ganz anderes, nämlich ein bekannter Tumor, bei dem die Mediziner lediglich nicht wissen, ob er gut- oder bösartig ist.

Das hört sich schon einmal ganz anders an.

Bei Wikipedia heißen diese Tumoren Mischgliom. Weil im Gewebe diffus verteilt lassen sich diese Gliome des mittleren Erwachsenenalters nur unscharf diagnostizieren.

2. Unplausible Fallzahlenentwicklung

Die Zahl der Menschen, die eine Behandlung wegen eines Hirntumors „unbekannter Art“ erhielten, stieg in der kurzen Zeit zwischen 2008 und 2012 um 30%.

Rechnet man das mit den Daten der ersten Tabelle in dem PDF nach, kommen zwar nur gut 28 Prozent heraus, doch das ist nebensächlich. Die Frage ist eher: Wieso ist die D43-Fallanzahl 2012 nicht weiter gestiegen, sondern von 1016 (2011) auf 968 (2012) gefallen? Eine solche Trendumkehr passt in keiner Weise zur stürmischen Entwicklung des Mobilfunkmarktes, der von einem jahrelangen starkem Anstieg der Teilnehmerzahlen und zunehmenden Gesprächsminuten geprägt war. Mona Nilsson geht mit keiner Silbe auf diesen Widerspruch ein, obwohl er klar gegen EMF als Treibstoff für D43 spricht.

3. Unklare Quelle von Monas D43-Fallzahlen

Quelle: Schwedische Gesundheitsbehörde (Socialstyrelsen)

Frau Nilsson vermittelt als Quelle der mörderischen D43-Fallzahlen die Website www.socialstyrelsen.se und wer dort herum stöbert findet irgendwann auf diese Statistikseite. Nachdem ich mich geraume Zeit mit dieser Krebsstatistik auseinander gesetzt habe, hege ich große Zweifel, dass die D43-Fallzahlen von dort stammen. Denn diese Statistik orientiert sich an der Klassifizierung der ICD-7 aus dem Jahr 1955, und die kennt keine D43-Tumoren. Soweit ich das Nachvollziehen konnte bietet die Website mit dem Schlüssel "193(0)" lediglich eine zusammenfassende Analyse aller Hirntumoren, wie sie in der ICD-10 unter dem Schlüssel C71 geboten wird. Im Klartext: Die Krebsstatistik auf Socialstyrelsen kann mMn nichts über D43 auswerfen. Um sicher zu gehen habe ich in Schweden nachgefragt.

4. UK-Statistik bestätigt Nilsson nicht

Mona Nilsson will mit ihrer Alarmmeldung darauf hinaus: Wäre D43 in den Krebsstatatistiken enthalten, sähe alles ganz anders aus, nämlich alarmierend!

Folgende Krebsstatistik des UK-Krebsregisters widerspricht dieser These klar. Die Grafik zeigt die altersstandardisierte zeitliche Entwicklung der Hirntumor-Inzidenz in Großbritannien inklusive der angeblich so dramatischen D43-Entwicklung.

[image]

Wie leicht zu erkennen ist, kann von einem dramatischen Anstieg keine Rede sein, im Gegenteil: seit 2008 gehen die Fallzahlen zurück. Wie kommt das? Haben die Briten keinen Mobilfunk? Aller Voraussicht nach erklärt schon die Altersstandardisierung die Differenz, was nicht gerade für die Solidität von Frau Nilssons Beitrag spräche.

Auf der Website des UK-Registers wird noch etwas deutlich: der Anteil der D43-Tumoren am Gesamtaufkommen der Hirntumoren ist sehr klein. Nur 8 Prozent aller Hirntumoren betreffen die Klassifizierungen C72, D33 und D43.

Tags:
Statistik, Hirntumor, Krebsrate, Großbritannien, Krebsstatistik, Gliom, Altersstandardisierung, Nilsson, ICD-10, D43, Krebsentwicklung, C71, Brain, Morphologie


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