"Chip online" mit Handypanik auf der Jagd nach Klickvieh (Forschung)

H. Lamarr @, München, Donnerstag, 15.09.2016, 23:27 (vor 3001 Tagen) @ KlaKla

Nun füllt auch die Chip das Sommerloch

Schock-Studie enthüllt: So sollten Sie Ihr Smartphone niemals tragen

Das einzige was mich hier schockt ist die redaktionelle Qualität dieser Meldung. Der Verfasser ist Volontär bei Chip, befindet sich also noch in der Ausbildung und ist daher von Schuld frei zu sprechen. Der Mann mit dem irreführenden Vornamen sollte aber in der Redaktion einen erfahrenen Ausbilder haben, der seine Texte prüft, bevor diese auf die Bevölkerung losgelassen werden. Dieser Prüfer hat mMn versagt, möglicherweise ist er sogar für die unappetitlich reißerische Titelzeile der Meldung verantwortlich, denn, das zeigt die Aufmachung von "Chip online" deutlich, es geht dort in erster Linie darum, vorbei streunende Besucher zu möglichst vielen Klicks auf der Chip-Website zu verführen. Klicks sind der Treibstoff für Online-Magazine, je höher die Klickraten eines Blattes sind, desto teurer lassen sich Anzeigeplätze verkaufen. Es geht also wieder einmal, wer hätte anderes erwartet, ums liebe Geld.

Wenn man die Nöte überzeugter Elektrosensibler kennt und die Ängste besorgter Spätgebärender, ist die Meldung bei "Chip" nicht nur billiger Verlautbarungsjournalismus, inspiriert von zuvor publizierten Alarmmeldungen der britischen Boulevardpresse (z.B. Daily Mail), sondern auch ein gutes Stück verantwortungslos. Das hindert skrupellose Hetzerlein der Anti-Mobilfunk-Szene freilich nicht, sich dieser anrüchigen Meldung dennoch zu bedienen. Niemand in der Redaktion, behaupte ich, hat auch nur die leiseste Ahnung von Spermienstudien. Trotzdem lässt man einen Volontär über so ein heikles Thema schreiben und nebenher subjektive Ängste vor Kinderlosigkeit schüren. Für eine Recherche, die 1 Zentimeter in die Tiefe ginge, hat der arme Kerl wahrscheinlich gar keine Zeit gehabt. Wäre für einen künftigen Journalisten aber gut gewesen, denn eigentlich macht dies erst den Job des Journalisten aus. Nur das bringen, was andere einem servierfertig auftischen, kann so ziemlich jeder, der im Fach Deutsch über mangelhaft hinauskam. So ist bei der Chip-Meldung nicht allein die indiskutable Titelzeile aus einer dunklen Ecke der Propagandakiste zu beanstanden, sondern auch das Fehlen einer differenzierten Berichterstattung. Dabei wäre diese so einfach gewesen, hätte der Volontär nur gewusst, wo er suchen sollte. Fündig geworden wäre er <hier> (PDF, 38 Seiten, deutsch):

Zusammenfassung
Der Einfluss elektromagnetischer Felder, die von Handys ausgehen, auf die männliche Fruchtbarkeit wurde in mehreren nationalen und internationalen Studien untersucht. Studien an Menschen zeigen einheitlich eine verminderte Fruchtbarkeit bei Menschen, die häufig ein Handy nutzen. Diese ist aber höchstwahrscheinlich durch die Lebensweise dieser Personengruppe und nicht durch elektromagnetische Felder verursacht. Laborstudien zeigen vor allem thermische Effekte oberhalb der Grenzwerte, die durch die hohe Temperaturempfindlichkeit von Spermien erklärt werden können. Derart hohe Belastungen kommen bei der alltäglichen Nutzung von Handys nicht vor. Auch wenn ein Handy in der Hosentasche sendet, liegt die Belastung der Hoden durch elektromagnetische Felder weit unterhalb der Grenzwerte und ein thermischer Effekt kann ausgeschlossen werden. Ergebnisse von Untersuchungen an Tieren zeigen in Abhängigkeit von der Studienqualität teilweise widersprüchliche Ergebnisse. Studien, die den qualitativen Ansprüchen einer guten wissenschaftlichen Praxis entsprechen, zeigen keinen gesundheitlich relevanten Einfluss elektromagnetischer Felder auf die Fruchtbarkeit. Da viele der beschriebenen Beobachtungen nicht abschließend geklärt sind, empfiehlt die WHO in der Research Agenda 2010 weitere Forschung auf diesem Gebiet, allerdings nicht mit einer hohen Priorität.

Und nun, Kim? Jetzt kannst du dein Smartphone wieder unbesorgt in die Hosentasche stecken.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Verantwortungslos, Medien, Verlautbarungsjournalismus, Volontär


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