"Elektrosensibilität" ist immer real (I) (Elektrosensibilität)
Im September 2022 brachte Environmental Research eine Übersichtsarbeit, in der die beiden Franzosen Dominique Belpomme und Philippe Irigaray zu erklären suchten, warum "Elektrosensibilität" und deren Symptome von künstlich erzeugten nicht-ionisierenen elektromagnetischen Feldern verursacht werden (Volltext). Das Paper blieb nicht unwidersprochen.
Den Widerspruch formulierte eine zwölfköpfige Autorengruppe, darunter auch ein Deutscher, mit dem Franzosen Victor Pitron als Korrespondenzautor. Unter dem Titel "Electrohypersensitivity is always real" wurden die Einwände noch im September 2022 bei Environmental Research eingereicht und dort im Februar 2023 veröffentlicht.
Höflich begrüßt die Gruppe zunächst den Versuch von Belpomme und Irigaray die verfügbaren Erkenntnisse zum Verständnis der Elektrohypersensibilität (EHS) zu integrieren und zu diskutieren. Es bestünden keine Zweifel daran, dass EHS eine schwerwiegende Beeinträchtigung sein könne, eine relativ hohe Prävalenz aufweise und ein besseres wissenschaftliches Verständnis sowie wirksamere Behandlungen erfordere. Doch dann kommt die Gruppe schon zur Sache und meldet fünf ernsthafte Bedenken an den Ausführungen der beiden Franzosen an:
1. die metatheoretische Perspektive des Papiers
2. die voreingenommene und selektive Überprüfung der Literatur
3. die Behauptungen, die über die Bedeutung der berichteten Daten/Ergebnisse aufgestellt werden
4. die Argumentation, um zu einer Schlussfolgerung zu gelangen
5. die Schlussfolgerung selbst
Den Volltext des Widerspruchs bietet Environmental Research nicht für jedermann unentgeltlich an. Deshalb nachfolgend einige Auszüge daraus.
Metatheoretische Perspektive
Was die metatheoretische Perspektive betrifft, so scheinen Belpomme und Irigaray ein altmodisches reduktionistisches biomedizinisches Modell zu befürworten, das Krankheiten nur dann als "real" anerkennt, wenn sie auf eine physiologische Funktionsstörung der Organe reduziert werden können, welche sich anscheinend anhand der Symptome bestimmen lassen. Zum Beispiel drängen sie darauf, EHS als "ein echtes Syndrom" (S.3) oder "eine echte pathologische Störung, die durch EMF-Exposition verursacht wird" (S.10) zu betrachten, weil einige Verbindungen zu physiologischen Veränderungen gefunden wurden (Belpomme und Irigaray, 2022). Doch damit wird implizit suggeriert, Krankheiten wären "nicht real", wenn diese Reduktion nicht möglich ist. Dementsprechend widerlegen sie "zweifellos die Hypothese eines Nocebo-Effekts" und sprechen sich gegen die Berücksichtigung psychologischer Determinanten von EHS aus (S.8).
Diese Aussagen sind Ausdruck eines längst überholten Geist-Körper-Dualismus und vernachlässigen gleichzeitig wesentliche Fortschritte im Verständnis von Nocebo-Mechanismen oder allgemeiner von Symptomwahrnehmungsprozessen (Van den Bergh et al., 2017b). Seit Jahrzehnten hat sich die Medizin einem biopsychosozialen Modell verschrieben, das jede Krankheit als Ergebnis eines "Verursachungsnetzes" betrachtet, in dem Faktoren auf biologischer, psychologischer und sozialer Ebene und deren Wechselwirkungen zum Symptombild, zu Leiden und Behinderung beitragen (Engel, 1977). Offensichtlich ist EHS allein durch die Tatsache, dass es mit behindernden Symptomen und erheblichem Leiden einhergeht, eine echte Krankheit, unabhängig davon, ob ein Zusammenhang mit somatischen Anomalien nachgewiesen ist. Daher sollten Personen mit EHS eine effiziente und angemessene Behandlung erhalten. Dies erfordert jedoch ein tiefes und korrektes Verständnis der beteiligten Kausalmechanismen.
Voreingenommene und selektive Überprüfung der Literatur
So gesehen stützen sich die Autoren auf eine voreingenommene und selektive Sichtung der Literatur. Indem sie "... es a priori als wissenschaftlich nicht vertretbar betrachten, darüber zu spekulieren, dass die 'elektromagnetischen' Behauptungen aller Patienten unbegründet sind und deren subjektives symptomatisches Gefühl mit einigen nicht EMF-bedingten psychosomatischen oder Nocebo-Gesundheitseffekten zusammenhängen könnte" (S.4), ignorieren sie schlichtweg die Literatur über Nocebo-Prozesse bei EHS. Diese A-priori-Position steht eindeutig im Widerspruch zu den großen Fortschritten, die in den letzten zwei Jahrzehnten beim Verständnis der psychologischen und neurobiologischen Prozesse gemacht wurden, die den Placebo- und Nocebo-Effekten zugrunde liegen (für Übersichten siehe Colloca und Barsky, 2020; Tavel, 2022). Auch für EHS gibt es umfangreiche Belege dafür, dass experimentell induzierte Erwartungen von schädlichen EMF zu mehr und möglicherweise dauerhaften Symptomberichten führen (Bräscher et al., 2020, 2017; Witthöft und Rubin, 2013). Trotz der Vermutung der Autoren, dass multiple chemische Sensibilität (MCS) und EHS einen gemeinsamen pathophysiologischen Mechanismus haben, vernachlässigen sie ebenfalls die Ergebnisse eines umfangreichen Forschungsprogramms zu MCS. Dessen Ergebnisse zeigten jedoch, dass die experimentelle Induktion von Erwartungen vermehrt Symptomberichte auf harmlose Chemikalien hervorruft und die meisten klinischen Merkmale von Personen mit MCS durch Nocebo-Manipulationen reproduziert (siehe für eine Übersicht der Ergebnisse Van den Bergh et al., 2017a, Tabelle 1).
Prozesse der Symptomwahrnehmung
Generell werden bei der Gegenüberstellung von Nocebo-Mechanismen und "echten" physiologischen Mechanismen die Belege dafür vernachlässigt, dass bei jeder Krankheit die Beziehung zwischen physiologischer Dysfunktion und Symptomberichten stark durch Prozesse der Symptomwahrnehmung vermittelt werden. Symptome können ihren Ursprung in einer physiologischen Dysfunktion haben und anschließend durch Nocebo-Mechanismen bestimmt werden, was erklärt, warum bei chronischen Krankheiten die Symptome typischerweise eine eher schlechte Beziehung zu kritischen physiologischen Parametern aufweisen (Fitzcharles et al., 2021).
Symptomwahrnehmungsprozesse sind auch stark an der Beobachtung beteiligt, dass bei etwa einem Drittel der Konsultationen in der Primärversorgung und zwischen einem Drittel und der Hälfte der Konsultationen bei Fachärzten kein Zusammenhang mit einer physiologischen Dysfunktion hergestellt werden kann (Van den Bergh et al., 2017a). Die diesen Symptomerfahrungen zugrunde liegenden Hirnaktivierungsmuster werden zunehmend ermittelt (z.B. Bogaerts et al., eingereicht; (Benedetti und Piedimonte, 2019; Jepma et al., 2018)). Sie betreffen vor allem die präfrontalen kortikalen Netzwerke und die striatalen und Hirnstammkreise (Wager und Atlas, 2015). Interessanterweise können Symptomberichte während einer Schein-EMF-Exposition bei Personen mit EHS mit ähnlichen Gehirnaktivierungsmustern in Verbindung gebracht werden (Landgrebe et al., 2008). Alles in allem gibt es deutliche Hinweise darauf, dass Nocebo- und – im weiteren Sinne –Symptomwahrnehmungsprozesse in der Medizin allgegenwärtig sind und die Symptomprofile von Patienten beeinflussen und verändern, unabhängig davon, ob sie an Krankheiten leiden, denen identifizierte somatische Anomalien zugrunde liegen oder nicht.
Die Autoren missachten nicht nur die Beweise für einen Nocebo-Effekt bei EHS, sie genügen auch kaum den wissenschaftlichen Grundsätze einer systematischen Übersichtsarbeit: Es werden keine Suchkriterien, keine Einschlusskriterien und keine systematischen Qualitätsbewertungen erwähnt. Dies mag erklären, warum die Schlussfolgerungen der Autoren in krassem Gegensatz zu den Schlussfolgerungen wissenschaftlich fundierter Übersichten über Provokationsstudien stehen. Rubin et al. überprüften 2010 nach einer systematischen Literaturrecherche, strikter Anwendung von Einschlusskriterien und Qualitätsbewertungen 46 Blind- oder Doppelblind-Provokationsstudien mit 1175 EHS-Fällen. Entgegen der Überzeugung von EHS-Betroffenen, dass ihre Symptome durch die Exposition gegenüber EMF ausgelöst werden, konnte dafür unter kontrollierten Bedingungen kein belastbarer Nachweis gefunden werden.
Von Studien, die den Prozentsatz der Teilnehmer überprüften, die in der Lage waren, EMF zu erkennen, wurden niedrige Zahlen gefunden, die für Patienten (2,9 %) und gesunde Kontrollpersonen (2,4 %) gleich waren und wahrscheinlich auf Zufall zurückzuführen sind. Wichtig ist, dass anscheinend schon Scheinexpositionen ausreichen, um im Labor Symptome auszulösen, die denen ähneln, die normalerweise von Personen mit EHS berichtet werden. Diese Schlussfolgerungen bestätigen die Ergebnisse einer Meta-Analyse, die mehrere Studien zusammenfasst (Röösli, 2008), einer systematischen Übersichtsarbeit (Röösli et al., 2010) und von Studien von Baliatsas et al. (Baliatsas et al., 2015, 2014). Obwohl einige Studien methodische Einschränkungen aufweisen, wie Belpomme und Irigaray betonen, stützt der Großteil der Belege die Ansicht, dass die selbstberichteten Symptome von EHS nicht auf die tatsächliche EMF-Exposition zurückzuführen sind, während es immer wieder starke Hinweise darauf gibt, dass die wahrgenommene Exposition und die Sorgen darüber zu den Symptomen beitragen. Dementsprechend zeigt eine unvoreingenommene Ausarbeitung der verfügbaren empirischen Belege, dass die Kernbehauptung dieser Personen, nämlich dass die Symptome in Gegenwart von EMF auftreten und nach Entfernung der EMF wieder abklingen, tatsächlich nicht durch die EMF-Exposition selbst verursacht wird. Vorbestehende Symptome (z.B. medizinisch ungeklärte, s.o.) können im Nachhinein auf EMF zurückgeführt werden, oder die Symptome können mit dem Nocebo-Effekt erklärt werden, in beiden Fällen scheint jedoch der Glaube an das Vorhandensein und die Schädlichkeit von EMF der entscheidende Prozess zu sein, nicht die tatsächliche Exposition gegenüber EMF (Boehmert et al., 2020).
Biomarker sollen belegen, EHS sei real
Ein weiterer problematischer Aspekt des Papiers ist die Art und Weise, wie physiologische Effekte im Zusammenhang mit der Exposition gegenüber EMF interpretiert werden. Sie werden als Biomarker oder "objektive pathophysiologische Veränderungen" (S. 1) betrachtet, die belegen, dass EHS "real" ist und damit die Rolle psychologischer Prozesse wie Nocebo ausschließen. In einer systematischen Übersichtsarbeit identifizierten Rubin et al. (Rubin et al., 2011) 29 Blind- oder Doppelblindexperimente, in denen Teilnehmer mit IEI-EMF unterschiedlichen EMF-Werten ausgesetzt waren und in denen objektiv gemessene Ergebnisse bewertet wurden. Fünf Studien identifizierten signifikante Assoziationen zwischen EMF-Exposition und Herzfrequenz und Blutdruck, Pupillenreflex und verändertem EEG während des Schlafs, aber die letzteren Ergebnisse waren in der EHS-Gruppe und der gesunden Kontrollgruppe ähnlich. Andere Studien konnten diese Ergebnisse jedoch nicht wiederholen, was darauf hindeutet, dass es keine zuverlässigen Beweise dafür gibt, dass Personen mit EHS ungewöhnliche physiologische Reaktionen aufgrund der Exposition gegenüber EMF erfahren (Huang et al., 2022; Malek et al., 2015). Auch andere physiologische Veränderungen wie geringgradige Entzündungen und Anzeichen von oxidativem/nitrosativem Stress werden uneinheitlich gefunden, aber, wie die Autoren selbst in einem anderen kürzlich erschienenen Papier über EHS einräumen, fehlt es ihnen an Spezifität, "da sie auch bei häufigen Krankheiten wie Krebs, Diabetes, Fettleibigkeit, Alzheimer und anderen mutmaßlich umweltbedingten pathologischen Störungen zu finden sind". Die Schlussfolgerung, dass sie "nichtsdestotrotz ... stark für die somatische, nicht-psychologische Signatur von EHS sprechen" (Belpomme et al., 2021), ist erstaunlich, weil die Autoren damit – wieder einmal – die umfangreichen Beweise dafür vernachlässigen, dass psychologische Prozesse somatische Anomalien verursachen können, dass Nocebo-Prozesse objektivierbare physiologische Auswirkungen haben können und selbst mit objektivierbaren Prozessen im Gehirn in Verbindung stehen (siehe oben).
Darüber hinaus ist die Exposition gegenüber EMF für eine Person mit EHS nicht nur eine Exposition gegenüber vom Menschen verursachte elektromagnetischen Felder, sondern insbesondere auch eine Exposition gegenüber einem stressigen Stimulus. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass Stresserfahrungen Auswirkungen auf EEG, EMG, Hauttemperatur, Hautleitwert und Herzfrequenzvariabilität (HRV) haben, Variablen, die von den Autoren als Indikatoren für "objektive Anomalien" genannt werden.
Fortsetzung in Teil II