Sein Zustand verschlechterte sich dramatisch: Ober- und Unterkiefer zerfielen, der Unterkiefer musste operativ entfernt werden, Löcher bildeten sich in seinem Schädel und sein gesamter Knochenbau wurde zerstört. 1932 starb Byers qualvoll in New York. Ein Wissenschaftler der Columbia University errechnete, in Byers Skelett hatten sich 36 Mikrogramm Radium angesammelt. Zehn Mikrogramm sind bereits tödlich.
Radium Girls: Tödliche Leuchtziffernblätter
Wie junge Frauen für ihr Recht kämpften und die Arbeitswelt für immer veränderten
New Jersey, 1920er Jahre – Die Zeiger der Uhren leuchteten im Dunkeln, und immer mehr Amerikaner wollten solche Uhren haben. Doch jede strahlende Uhr hatte ihre Schattenseite: Zahlreiche junge Frauen, die sogenannten „Radium Girls“, bezahlten mit ihrem Leben dafür, dass Zeiger und Ziffern im Dunkeln sichtbar blieben. Ihre Geschichte ist eine Geschichte von Mut, medizinischem Neuland und dem erbitterten Kampf gegen ein mächtiges Unternehmen.
Leuchtende Uhren als Jobmotor
◄ Ziffernblattmalerinnen bei der Arbeit in einem Werk der USRC
Bild: Public Domain
Anfang der 1920er Jahre florierte in Orange (New Jersey) die United States Radium Corporation (USRC). Das Unternehmen stellte Farbe her, die – mit winzigen Mengen Radium-226 versetzt – in der Dunkelheit leuchtete. Radium besaß die besondere Eigenschaft, nach Umladung in sogenannten Gasentladungslampen abends und nachts weiterhin zu glimmen. Uhrenhersteller waren begeistert: Uhren aller Art mit radiumbeschichteten Zifferblättern verkauften sich wie warme Semmeln. Um der Nachfrage gerecht zu werden, rekrutierte USRC hunderte junger Frauen für die kostspielige, aber verhältnismäßig leicht erlernbare Arbeit des „Lippenspitzen“ (engl. „lip-pointing“).
„Lippenspitzen“ bedeutete: Mit feinen Pinselspitzen trugen die Arbeiterinnen die Leuchtfarbe auf Zifferblatt und Zeiger auf. Um die Pinsel spitz zu halten, formten die Arbeiterinnen die Spitze mit ihren Lippen nach. So gelangten jedes Mal winzige Mengen Radium in Mund und Rachen – unbemerkt, aber lebensbedrohlich.
Unwissenheit und frühe Symptome
In den ersten Jahren galt Radium als Wundermittel. Medizinische Fachzeitschriften lobten es als Heilmittel gegen diverse Leiden. Die Arbeitsbedingungen in der Lackierabteilung von USRC wirkten harmlos: Einfache Arbeitskleidung, niedrige Schutzstandards. Die Verantwortlichen – von den Farbmischern bis zur Geschäftsleitung – trugen Handschuhe und Atemmasken. Die jungen Frauen hingegen arbeiteten ungeschützt.
Bereits Mitte der 1920er Jahre klagten erste Arbeiterinnen über Zahnschmerzen, Kiefergeschwüre und schmerzende Knochen. Doch USRC stritt lange ab, dass Radium der Auslöser sei. Die Unternehmenstaktik: Jeder Hinweis auf gefährliche Langzeitfolgen sollte möglichst unterdrückt werden.
Syphilis als Ablenkungsdiagnose – und der Strahlenbeweis im Grab
Als eine der ersten betroffenen Arbeiterinnen, Amelia Maggia, im Jahr 1922 verstarb, wurde offiziell „Syphilis“ als Todesursache in ihrer Sterbeurkunde vermerkt – obwohl sie zuvor massive Symptome einer Radiumvergiftung gezeigt hatte. Diese Diagnose war medizinisch nicht haltbar, hatte aber eine doppelte Wirkung: Sie lenkte von der eigentlichen Ursache ab und stigmatisierte Amelia Maggia moralisch, was ihre Angehörigen und spätere Klägerinnen zusätzlich unter Druck setzte.
Einige Jahre später forderte Amelia Maggias Familie im Rahmen des Prozesses die Exhumierung ihres Leichnams. Ein unabhängiges Ärzteteam unter Leitung von Dr. Harrison Martland untersuchte dabei den Schädelknochen. In einer Dunkelkammer stellten sie fest, dass Amelia Maggias Knochen trotz ihres Todes noch radioaktiv strahlten – Jahre nachdem sie verstorben war. Dieser Befund war ein handfester wissenschaftlicher Beweis, dass sie durch die Arbeit mit Radium dauerhaft geschädigt worden war. Damit fiel das Narrativ der Firma, es handele sich um „Zufälle“ oder andere Krankheiten, in sich zusammen.
Diese Enthüllung war für das Unternehmen besonders brisant, weil sie damit entgegen ihrer bisherigen Verteidigungsstrategie eine direkte Verbindung zwischen der Tätigkeit und dem Tod der Arbeiterin belegte. Es war also kein „versehentlicher“ Fund im eigentlichen Sinne – sondern ein nicht von der Firma kontrollierbarer Beweis, der ihre Position erheblich schwächte.
Der mutige Gang vor Gericht
Im Februar 1928 sammelten sich neun ehemalige und noch aktive Radium-Arbeiterinnen vor dem Bezirksgericht in Newark (New Jersey). Angeführt wurde die Gruppe von Grace Fryer, die selbst seit Jahren mit Knochenbrüchen und starkem Kieferknochenschwund kämpfte. Der mutige Schritt: Sie klagten gegen USRC auf Schadensersatz und namentliche Anerkennung der Verantwortung. Folgende Kernforderungen stellten sie:
► Finanzielle Absicherung für Behandlungskosten und künftige Versorgung
► Schmerzensgeld für das körperliche Leiden
► Veröffentlichte Schuldeingeständnis, das den Weg für strengere Sicherheitsstandards ebnen sollte
USRC reagierte zunächst mit Taktik: Verzögerungstaktiken, Gutachter, die erneut auf Syphilis und allgemeine „Mangelernährung“ verwiesen, und das Anbieten kleiner Vergleiche unter der Bedingung des Stillschweigens. Doch der öffentliche Druck wuchs. Zeitungen berichteten über die leuchtenden Knochen, und die Schilderungen von Martyrium und Schmerzen der Frauen erschütterten die Öffentlichkeit.
Urteil und Folgen
Im Juli 1928 bot USRC schließlich einen Vergleich an:
► 10'000 US-Dollar Einmalzahlung an jede Klägerin
► Eine monatliche Rente von 600 US-Dollar, solange sie lebten
Zwar hatten sich die Radium Girls auf eine außergerichtliche Einigung eingelassen, doch die öffentliche Wirkung war gewaltig. Sensibilisierte Ärzte veröffentlichten Studien, Gewerkschaften forderten bessere Schutzmaßnahmen, und in den folgenden Jahren entstanden erstmals offizielle Arbeitsschutzrichtlinien für den Umgang mit radioaktiven Stoffen.
Das Urteil veränderte die US-Arbeitswelt nachhaltig:
► Strengere Kontrollen: Laboratorien und Fabriken mussten Risikostoffe neu klassifizieren.
► Kennzeichnungspflichten: Gefährliche Chemikalien mussten eindeutig gekennzeichnet werden.
► Gesundheitsüberwachung: Regelmäßige medizinische Untersuchungen für Beschäftigte, die mit radioaktiven Materialien umgehen.
Ein Vermächtnis, das weiterstrahlt
Die „Radium Girls“ starben meist jung – ihre Schmerzen hörten nicht mit dem Gerichtsverfahren auf. Dennoch haben sie durch ihren Mut eine Welle der Veränderung losgetreten, von der heute noch Arbeiterinnen und Arbeiter weltweit profitieren. Ihre Geschichte mahnt:
► Risiken nicht zu verschleiern, sondern aufzudecken und aufzuklären.
► Betroffene zu unterstützen, anstatt sie zu diskreditieren.
► Arbeitsstätten so zu gestalten, dass niemand für seinen Job mit seiner Gesundheit bezahlt.
Dr. Harrison Martland, der Unermüdliche, formulierte es 1934 so:
„Es sind nicht die Leuchtziffern an den Uhren, die am Ende strahlen – es sind die Konsequenzen, die wir aus dem Schicksal der Klägerinnen ziehen.“
Heute, hundert Jahre nach der ersten Klage, stehen ihre Namen als Synonym für Aufklärung, Arbeitsschutz und Gerechtigkeit. Die strahlenden Zeiger mögen längst verblasst sein, doch das Vermächtnis der Radium Girls leuchtet heller denn je: Es gewährt uns das Bewusstsein, dass Wissen und Verantwortung untrennbar sind.
(Alle in dem Post genannten Ereignisse, Zitate und Zahlen basieren auf historischen Dokumenten, Gerichtsakten und zeitgenössischen Presseberichten. Die Darstellung orientiert sich streng an belegten Fakten.)