Neues von Berenis (40): April 2025 (Forschung)

H. Lamarr @, München, Montag, 28.04.2025, 20:41 (vor 4 Stunden, 42 Minuten)

Im Zeitraum von Mai bis Mitte Juli 2024 wurden 85 neue Publikationen identifiziert, von denen fünf von Berenis vertieft diskutiert wurden. Vier davon, darunter die umstrittene Chromosomenstudie (Gulati et al.) des "Athem-3-Projekts" der sogenannten Kompetenzinitiative, wurden gemäß den Auswahlkriterien als besonders relevant zur Bewertung ausgewählt und werden im Folgenden vorgestellt. Ungekürzt und mit Literaturangaben gibt es den aktuellen Berenis-Newsletter hier.

Auswirkungen auf die Umwelt

Oxidativer Stress bei Honigbienen (Apis mellifera L.) nach HF-EMF-Langzeitexposition bei 900 MHz (Vilić et al. 2024)
In der Feldstudie von Vilić et al. (2024) wurde der Einfluss von HF-EMF (900 MHz) auf oxidativen Stress bei drei Entwicklungsstadien von Honigbienen untersucht (Larve, Puppe, adulte Biene). Die jeweiligen Gruppen wurden mittels Randomisierung zusammengestellt. Das elektrische Feld betrug 0.03, 0.07 und 1 V/m, in Abhängigkeit von der Distanz zur Basisstation/Antenne. Die durchschnittliche Feldstärke wurde gemessen. Die Expositionsdauer betrug 2.Wochen, 5 Monate und 1 Jahr. Die Proben wurden jeweils im April und im September genommen und die jahreszeitlichen Schwankungen berücksichtigt. Gemessen wurden Marker des oxidativen Gleichgewichts im Darm von adulten Bienen sowie in Larven und Puppen, konkret Enzyme, die dem oxidativem Stress entgegenwirken (Glutathion-S-transferase, Katalase und Superoxid-Dismutase) sowie Indikatoren für Lipidperoxidation als Marker für anhaltenden oxidativen Stress. Die Resultate zeigen, dass HF-EMF mit einer Frequenz von 900 MHz oxidativen Stress in bestimmten Entwicklungsstadien von Honigbienen auslöst, wobei die Aktivität der gemessenen Enzyme abhängig vom Entwicklungsstadium, dem elektrischen Feld und der Expositionszeit ist. Das Larvenstadium war generell am sensitivsten. Es gibt jedoch keine konsistente Beziehung zwischen der elektrischen Feldstärke und dem gemessenen Effekt. Alle statistisch signifikanten Ereignisse wurden bei der höchsten Exposition gemessen, entweder im Larvenstadium oder in adulten Bienen. Die Studie wurde unter tatsächlich vorkommenden Umweltbedingungen durchgeführt, sodass eine direkte Relevanz angenommen werden kann. Allerdings wurden keine direkten Auswirkungen auf die Gesundheit der Bienen untersucht und nur molekulare Marker gemessen, die keine eindeutigen Befunde lieferten. Diese Feldstudie liefert erste Hinweise, die weiteruntersucht werden sollten.

Experimentelle Tier- und Zellstudien

Der Einfluss von 1.7-GHz-LTE-Exposition auf Zellkulturen (Goh et al. 2024)
Diese Studie basiert auf Beobachtungen der gleichen Forschungsgruppe (Choi et al. 2020; siehe Berenis-Newsletter Nr. 24), die zeigten, dass die Exposition verschiedener humaner Zelllinien mit einem LTE-modulierten Signal zu einer Reduktion des Wachstums der Zellkulturen führte. In der neuen Studie haben die Autorinnen und Autoren jetzt das Expositionssystem für 1.7-GHz-HF-EMF verbessert, unter anderem durch die Kopplung der kontinuierlichen Messung der Temperatur mit einem aktiven Kühlsystem. Zuerst wurden die Auswirkungen einer 24-stündigen Exposition (0.4.und 4 W/kg SAR) im ursprünglichen und überarbeiteten System auf das Wachstum verschiedener Zellkulturen (primäre Adipozyten und Krebszellen des Menschen) verglichen. Zellkulturen im besser kontrollierten Expositionssystem zeigten keine Effekte bezüglich des Wachstum der Kulturen, während dosisabhängige Reaktionen bei den Kulturen aus dem ursprünglichen System beobachtet wurden. Im Weiteren wurden keine Effekte der Temperatur-kontrollierten Expositionen für 72 Stunden (bei SAR- Werten von 0.4, 1, 4 und 8 W/kg) in diesen sowie weiteren Zelllinien festgestellt, ebenso nicht, wenn andere Parameter der Zellvitalität (Apoptose, Zellzyklus, DNA-Schäden und Aktivierung von Signalkaskaden) analysiert wurden. Dass die Veränderungen der Zellproliferation in erster Linie auf die Temperaturerhöhung bedingt durch die HF-EMF-Exposition zurückzuführen sind, wurde in einem abschliessenden Experiment mit und ohne aktive Temperaturkontrolle gezeigt. [...] Diese Studie ist insofern bemerkenswert, als dass sich diese Forschungsgruppe sehr selbstkritisch zeigt und ihre eigenen früheren Befunde auf eine ungenügende Kontrolle der Temperatur zurückführt. Dies zeugt von einer guten wissenschaftlichen Vorgehensweise, um mögliche Nebeneffekte der Exposition rigoros auszuschalten, was gerade im Bereich von HF-EMF ein wichtiger Faktor ist, um nicht-thermische von thermischen Effekte zu unterscheiden.

Epidemiologische Studien

Querschnittsstudien zum Einfluss von EMF auf zytogenetische Parameter im menschlichen Blut (Nguyen et al. 2024 und Gulati et al. 2024)
Zwei konzeptionell ähnliche Studien haben den Einfluss von NIS auf den genetischen/zytogenetischen Zustand von Blutzellen von freiwilligen Studienteilnehmenden untersucht. Die zytogenetischen Parameter wurden anschliessend mit den erhobenen Expositionsdaten korreliert, auf Störgrössen hin kontrolliert und die Daten von klassifizierten niedrig und stärker exponierten Probandinnen und Probanden verglichen. Vom Ansatz her handelt sich hier also um epidemiologische Querschnittstudien, die eine ausgewählte Teilpopulation, in diesen Fällen kategorisiert nach Expositionskriterien, auf Gemeinsamkeiten hin testet, aber beschränkt aussagekräftig in Bezug auf einen Kausalitätsnachweis sind. Im Fokus standen einerseits die berufliche Exposition von Angestellten der Elektrizitätsindustrie mit 50-Hz-NF-MF (Nguyen et al. 2024) und andererseits die Exposition von Anwohnerinnen und Anwohnern in der Nähe von Mobilfunkinfrastrukturanlagen mit HF-EMF (GSM/LTE-Antenne) (Gulati et al. 2024). In beiden Studien wurden als biologische Endpunkte die Fragmentierung der Zellkern-DNS mittels Kometen-Assay und die Bildung von Mikrokernen (in der Zellteilung gebildete DNS-Fragmente ausserhalb des Zellkerns) gemessen. In der Studie von Gulati wurden zusätzlich noch zytogenetische Veränderungen der Chromosomen, Doppelstrangbrüche, sowie Marker für oxidativen Stress und Präleukämie gemessen, deren Analysen unter verblindeten Bedingungen durchgeführt wurden. Die analytischen Verfahren sind in beiden Studien gut dokumentiert und ausgeführt; die unterschiedliche Ausprägung der Daten (Kometen-Assay, Mikrokern-Assay) könnte auf methodologische Unterschiede zurückzuführen sein.

Bei Studien dieser Art sind bezüglich der statistischen Aussagekraft folgende Punkte von entscheidender Bedeutung: 1) die Stichprobengrösse, 2) die Abschätzung der Exposition, und 3) die Beurteilung und der Einschluss von möglichen Störfaktoren. In beiden Studien wurde eine relativ kleine Gruppe von Freiwilligen eingeschlossen. Bei Nguyen et al. (2024) waren dies 79 Angestellte von belgischen Hochspannungsnetzbetreibern, die entweder eine Tätigkeit im Büro oder als Techniker vor Ort ausübten. Diese wurden in niedrig- (n=29), mittel- (n=37) und hoch-exponierte (n=13) Gruppen eingeteilt. Die Gruppengrösse der am stärksten exponierten Personen war ähnlich wie die bei der Studie von Gulati et al. (2024) mit zwei Gruppen von 12 Studienteilnehmenden (n=24). Diese wurden gemäss ihres Wohnsitzes in der Nähe (75-160 Meter) oder in grösserer Entfernung (490-1020 Meter) von Mobilfunkantennen in zwei deutschen Siedlungsgebieten rekrutiert. In der Studie von Nguyen wurde die Expositionsabschätzung mittels tragbaren Messgeräten über einen Zeitraum von drei Tagen durchgeführt. Eine solche Momentaufnahme kann die persönliche Exposition aus langfristiger Sicht nur ungenau abschätzen. Für die Gruppeneinteilung wurden die Messdaten während der Arbeitszeit aggregiert, wobei Teilnehmende mit überdurchschnittlich hoher Exposition ausserhalb der Tätigkeit ausgeschlossen wurden (n=9). Es wurden hier keine Messungen beziehungsweise Expositionsabschätzungen ausserhalb des 40-800-Hz-Frequenzbandes gemacht, anders als in der Studie von Gulati, wo neben den GSM- und LTE-Signalen auch Felder von WLAN, DECT sowie NF-MF im Bereich 16.7 und 50 Hz gemessen wurden. Allerdings ist vor allem für die hochfrequenten Felder die Messstrategie in der Publikation eher lückenhaft dokumentiert, zusätzliche Informationen sind aber beim Auftraggeber des Projektes abrufbar. Die Messungen wurden für 5-7 Tage im Schlafbereich durchgeführt, wobei dann die Daten von 22-6 Uhr in die Analyse einflossen. Folglich berücksichtigt dieser Ansatz für die Expositionsabschätzung die persönliche Exposition ausserhalb der Schlafenszeit nicht, beispielsweise die Verwendung oder Nähe zu EMF-emittierenden Geräten oder Anlagen während der Arbeits- und Freizeit oder unterwegs. Diese Exposition könnte aber erheblich sein, weil typischerweise grösser, und kann die Gruppenzuteilung in Frage stellen. Weiter zeigt die grosse Streuung der Exposition, dass die Einteilung aufgrund der Distanz zur Antenne nicht aussagekräftig ist. In beiden Studien wurden das Geschlecht, Rauchen, Alkoholkonsum, und medizinische Interventionen (z.B.: Röntgen, Computertomographie) als potentielle Störfaktoren berücksichtigt und in der Nguyen-Studie zu NF-MF zusätzlich das Alter und der Zeitpunkt der Probennahme. Mit den Störfaktoren wurde aber in den beiden Studien unterschiedlich umgegangen. Während bei Nguyen et al. (2024) wie üblich für Querschnittstudien die Störfaktoren in das statistische Model für die Hauptanalyse miteinbezogen wurden, verzichtete die Autorenschaft der Gulati-Studie darauf, was statistisch auch nicht möglich ist, weil die statistische Aussagekraft (Power) bei dieser Stichprobengrösse nicht für mehr als zwei Störfaktoren ausreicht. Sie begründeten dies damit, dass die tief- und hoch-exponierten Gruppen ausreichend vergleichbar sind, was bei je 12 Teilnehmenden pro Gruppe kaum bestimmbar ist, und dass nur wenige und meist nicht-signifikante Interaktionen mit den Störfaktoren gefunden wurden. Dass dies eine mögliche Quelle für Fehleinschätzung ist, zeigen die Analysen der Nguyen-Studie mit einer grösseren Stichprobe. Für den Kometen- sowie den Mikrokern-Assay wurde von signifikanten Assoziationen mit dem Alter und vorgängigem Rauchen berichtet, während die berufliche Exposition mit 50-Hz-NF-MF keinen signifikanten Einfluss zeigte. Die nicht-adjustierten Analysen in der Gulati-Studie hingegen analysierten viele Kombinationen von 16 Expositionsmessgrössen und 15 Gesundheitsendpunkten. Dieses Mehrfachtesten in Kombination mit der kleinen Stichprobe ist häufig problematisch, weil man fast immer zufällige signifikante Ergebnisse findet. Die Studie zeigt eine signifikante Korrelation zwischen Parametern der GSM/LTE-Exposition bezüglich veränderter Chromosomen, aber auch einen schützenden Effekt auf einen Marker für oxidativen Stress (TBARS), was aber nicht diskutiert wird. Die Mehrzahl der analysierten zytogenetischen Endpunkte tendieren in beide Richtungen, waren aber nicht signifikant.

Die zwei Querschnittsstudien zum Einfluss von NIS auf zytogenetische Blutparameter kommen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen, deren Aussagekraft aber limitiert ist. Bei Nguyen et al. (2024) fanden sich keine Hinweise auf Veränderung bedingt durch die berufliche Exposition mit 50-Hz-NF-MF. Zumindest grosse Effekte wären mit diesem Studiendesign durchaus nachweisbar gewesen. In der Studie von Gulati et al. (2024) gibt es viele Unsicherheiten bezüglich eines möglichen Zufallsbefundes, unter anderem bedingt durch die relative kleine und selektive Stichprobe (siehe dazu eine weitere unabhängige Beurteilung). Hier wäre es wichtig, die tief- und hoch-exponierten Gruppen zu vergrössern und die Expositionsabschätzung zu verfeinern. Es sollten möglichst auch verschiedene Antennenstandorte in unterschiedlichen Umgebungen eingeschlossen werden. Dies würde die statistische Aussagekraft erhöhen und auch das Einschliessen von Störfaktoren im Modell ermöglichen. Der Vergleich von zwei Antennenstandorten birgt die Gefahr, dass weitere nicht- identifizierte Faktoren (sozioökonomischer Status, Bildung, Ernährung, Lebensstil, andere Umweltfaktoren) einen Einfluss haben könnten.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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