04 Mobilfunk ist krebserregend: "Das wissen die Wenigsten" (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 11.08.2019, 14:02 (vor 1927 Tagen) @ H. Lamarr

Kurz vor dem Wahlsonntag am 26. Mai 2019 ließ sich Peter Hensinger, Kandidat für den Stuttgarter Gemeinderat, von zwei Gesinnungsfreunden eine Stunde lang befragen. Dies ist im Politzirkus gängige Praxis, um Botschaften gezielt los zu werden und unbequemen Fragen von vornherein aus dem Weg zu gehen.

Peter Hensinger, flankiert von zwei "jungen Wilden" der SÖS

Ab Minute 4:54 wird Hensinger, für ihn willkommen suggestiv, gefragt: Warum sind kleine [Funk]Zellen weniger gesundheitsschädlich als große Zellen und warum ist es clever, dass man Innen- und Außenversorgung trennt?

Hensinger: Also, da muss man vielleicht voraussagen, die Mobilfunkstrahlung wird von der WHO als krebserregender Stoff eingruppiert [mit erhobenem Zeigefinger mahnend] – das wissen die Wenigsten! Dann haben wir [eine] neue Studienlage, die das nochmal bestätigt, – also NTP-Studie, Ramazzini-Studie, österreichische Auva-Versicherung, die bestätigen alle, die Dauerbestrahlung ist gesundheitsschädlich [...].

War es die Aufregung vor einer Kamera zu reden, Unwissenheit oder fester Wille zur Desinformation? Was es auch war, wie wir gleich sehen werden, stimmt an der "Voraussage" des Diagnose-Funkers (statt "voraussagen" wollte er wohl "vorausschicken" sagen) so gut wie nichts.

Hensingers WHO-Behauptung

Die mit Abstand krasseste Desinformation Hensingers ist seine Behauptung, die WHO habe Mobilfunkstrahlung als krebserregend eingestuft. Richtig ist: Die IARC (Krebsagentur der WHO) kennt zur Klassifizierung des Krebsrisikos von Stoffen vier Eskalationsstufen von "nicht klassifizierbares" Krebsrisiko (Gruppe 3) bis hin zu "krebserregend" bei Menschen (Gruppe 1). Mobilfunk (elektromagnetische Felder) wurde 2011 der Gruppe 2B zugeordnet ("möglicherweise krebserregend"), das ist der schwächste Krebsverdacht, den die Agentur äußern kann. Gegenwärtig befinden sich 311 Stoffe in dieser Gruppe.

Für unlautere Absichten Hensingers spricht, dass er nicht zwischen Sendemasten und Mobiltelefonen unterscheidet, sondern pauschal von Mobilfunkstrahlung redet. Diese Vernebelung ist typisch, wenn Frontleute der Mobilfunkgegner gezielt irrationale Ängste bei Laien schüren wollen. Tatsache ist, die WHO hat nach längerem Zögern 2013 klargestellt, die 2B-Eingeruppierung gilt nicht für Mobilfunksendemasten, sondern für Mobiltelefone. Da Hensinger pausenlos von Sendemasten redet, unterstelle ich ihm, das Verschweigen dieser wichtigen Differenzierung ist kein Versehen, sondern Absicht, um die Bevölkerung zu verunsichern.

Wie dem auch sei, wenn Peter Hensinger doziert, die Wenigsten wüssten, die WHO habe Mobilfunk als krebserregend eingestuft, so ist dazu festzuhalten: Niemand kann das wissen, weil Hensigers Behauptung auf einer groben Verdrehung der Tatsachen beruht. Leider wissen Hensingers Gesprächspartner im Video noch weniger über die Arbeit der IARC als er, Hensingers Falschaussage wird von den Beiden daher nicht angezweifelt.

Weiter geht es jetzt mit Hensingers Beweisstudien

Wer die NTP-Studie im Zusammenhang mit Sendemasten nennt, und genau dies tut der Diagnose-Funker, der hat diese Studie nicht verstanden. Dabei ist die NTP-Studie gar nicht so schwierig zu verstehen. Auch fachliche Laien können erkennen, dass eine Studie, die, wie die NTP-Studie, Ratten und Mäuse lebenslang mit bis zum 75-Fachen des geltenden Grenzwerts für Ganzkörperexposition befeldet, keine Aussagekraft für Sendemasten haben kann, die schlimmstenfalls ein Hundertstel oder Tausendstel dieses Grenzwerts ausschöpfen. Wenn überhaupt, hat die NTP-Studie allein Bedeutung für den Gebrauch von Mobiltelefonen, denn deren Grenzwert (in Europa 2 W/kg) wurde vergleichsweise nur wenig überschritten. Ob es freilich realistisch ist, dass jemand zwei Jahre lang jeden Tag für (kumuliert) neun Stunden pro Tag ein Mobiltelefon mit maximaler Sendeleistung gebraucht, das mag jeder selbst beurteilen. Wegen dieser und anderer Besonderheiten sind die Befunde der NTP-Studie jedenfalls umstritten und nur mit äußerster Vorsicht zu interpretieren. Bei Hensinger ist von dieser Vorsicht nicht das Geringste zu bemerken.

Die Ramazzini-Studie ist im Gegensatz zur NTP-Studie tatsächlich eine Sendemastenstudie. Sie fand, allerdings nur nach extrem starker lebenslanger Befeldung (50 V/m), bei den Versuchstieren seltene Tumoren im Herz. Abgesehen davon, dass die extrem starke Dauerbefeldung in Grenzwertnähe in der Realität nirgendwo gegeben ist, gibt es auch an der Ramazzini-Studie substanzielle Einwände von Fachleuten, besonders die statistische Auswertung wird als möglicherweise verzerrend kritisiert. Auch diese Studie ist daher nur unter starken Vorbehalten als Beweisstudie tauglich.

Einen Griff ins Klo leistet sich Peter Hensinger mit seinem Verweis auf die schon reichlich betagte Auva-Studie (auch bekannt unter den Akronymen Athem und Athem2). Abgesehen davon, dass es hier wieder um Mobiltelefone geht und nicht um Sendemasten, will ein Befund von Athem2 so gar nicht zu Hensingers Alarmismus passen.

Hensinger sitzt im Vorstand der selbsternannten "Verbraucherschutzorganisation" Diagnose-Funk und ist dort für das "Ressort Wissenschaft" zuständig :no:. Aus meiner Sicht sollte er vielleicht besser als Stadtimker Bienen züchten und das Ackern des komplexen Feldes Mobilfunk und seine biologischen Auswirkungen kompetenten Experten überlassen, die wissen, wovon sie reden.

Hintergrund: Für das Bündnis Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS) trat Peter Hensinger zur Kommunalwahl 2019 auf Listenplatz 54 an, seine Ehefrau Doris auf Platz 19. In den Stuttgarter Gemeinderat gewählt wurden im Mai 2019 die Kandidaten auf den Listenplätzen 1 bis 3, dazu gehören die beiden "jungen Wilden", die Hensinger im Video befragen. Peter Hensinger kletterte (einem publizierten vorläufigen Ergebnis zufolge) am Wahltag in der Wählergunst von Platz 54 auf Rang 35 (5973 Stimmen), Ehefrau Doris fiel mit 9430 Stimmen um einen Platz auf Rang 20.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Stuttgart, Video, Diagnose-Funk, Desinformation, Selbstdarstellung, Hensinger, Falschmeldung, Wahlkampf, Trick, Athem-2, SOES, Rockenbauch, Wissenschaftsleugnung, Uminterpretation


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