40 Meter hoher Bahnhofsmast vs. 4-Meter-Immissionsebene (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Sonntag, 05.01.2014, 19:32 (vor 3971 Tagen) @ H. Lamarr

Das Standort-Gutachten des Umweltinstituts (UI) für Herrenberg hat im Frühjahr 2013 dazu geführt, dass die Stadt sich für einen neuen Standort am Bahnhof durchgerungen hat (siehe Bild). Am neuen Standort, der im Gutachten auf Seite 44 vorgeschlagen wird, sollte eigentlich ein 30 Meter hoher Betonmast mit drei Plattformen errichtet werden. Das UI hatte für diesen Neubau 36 Antennen in der Prognose vorgesehen, und für die Apotheke (siehe Bild) eine maximale Immission von 4,3 V/m vorausgesagt (Immissionspunkt U01ni).

Neuer und alter Mobilfunk-Standort am Bahnhof von Herrenberg
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Foto: Google Maps

Die planerische Leistung des UI geht in diesem Fall gegen Null, denn der neue Standort ist lediglich der notwendige Ersatz für den nur einen Steinwurf entfernten alten Standort auf einem 27 Meter hohen Silo der BayWa. Da das Silo das Stadtbild verschandelt soll es demnächst abgerissen werden, deshalb gleich nebenan der neue Standort für die Antennen, die jetzt noch auf dem Silo stehen. Im März 2013 stimmte der Gemeinderat von Herrenberg dieser vom UI vorgeschlagenen Lösung zu, obwohl bis auf eine Verschiebung um etwa 75 Meter alles beim alten bleibt. Bei angeblich 30'000 Euro für das Gutachten kostet die Herrenberger jeder Meter Versatz zwischen altem und neuen Standort stolze 400 Euro.

Herrenberger wollen 10 Meter höher hinaus
Womöglich war es das miserable Kosten-Nutzen-Verhältnis, dass der Bahnhofsmast nun doch nicht so gebaut wird wie geplant. Ende November 2013 wurde nämlich vom Gemeinderat, wenn schon keine substanzielle Verschiebung des Standorts, so doch eine Aufstockung um 10 Meter auf 40 Meter beschlossen. Dass es dazu kam, sei, so der Schwarzwaldbote, "in erster Linie das Ergebnis des Vorschlags aus dem Gemeinderat, eine Erhöhung zu prüfen, um so eine weitere Minimierung der Strahlenbelastung für die Bevölkerung zu erreichen." Tatsächlich wurde im Vorfeld das UI gefragt, inwieweit sich durch die Aufstockung die Immissionen verändern. Die daraus resultierende 10-seitige ergänzende Immissionsprognose des UI steht leider nicht mehr vollständig im Netz, sondern nur noch die Seite 3. Glücklicherweise wird auf dieser Seite jedoch der neue Immissionswert für die Apotheke genannt: Infolge der Aufstockung sollen dort nicht mehr 4,3 V/m ankommen, sondern nur noch 2,8 V/m.

Für 75 Meter Horizontalversatz und 10 Meter Höhenanhebung gegenüber dem alten Standort sind 30'000 Euro Honorar für meinen Geschmack noch immer reichlich üppig.

Interessengemeinschaft verbreitet falschen Immissionswert
Doch jetzt wird es merkwürdig. Auf der Website der Interessengemeinschaft Mobilfunk in Herrenberg und Umgebung e.V. wird für die Apotheke ein nur halb so großer Immissionswert genannt:

Im Vergleich zum ursprünglich geplanten 30 m Masten wird sich nach Auskunft vom Umweltinstitut die maximale Strahlungsstärke (gem. Prognose vom 21. Jan. 2013, S. 44) von 4,3 V/m (49.000 µW/m² im Obergeschoss des Gebäudes der Haug-Apotheke) auf 1,4 V/m (5.200 µW/m² nach Aussage im TA) verringert.

Ob der Webmaster der IG da etwas falsch verstanden oder Herr Ulrich-Raithel es sich nach seinem Besuch im Technischen Ausschuss (TA) der Stadt noch einmal anders überlegt hat, bleibt offen. Und dieser Fehler ist mMn auch nicht die Achillesferse der Immissionsprognose, sondern etwas anders.

Achillesferse der Immissionsprognose
Man muss die Prognose des Umweltinstituts schon etwas genauer ansehen, um zu bemerken, dass sämtliche Prognosen dort auf eine Höhe von 4 Meter über Grund bezogen sind! In dieser Höhe befindet sich üblicherweise der 1. Stock (1. Obergeschoss) von mehrstöckigen Häusern. Das bedeutet im Klartext: Die Prognose gilt nicht für Passanten (schwächere Immission) und nicht für Bewohner höherer Stockwerke (stärkere Immission). Ein bekannt rüpelhafter Mobilfunkgegner aus der Schweiz reagiert bei Immissionsbetrachtungen auf die Auslassung der oberen Stockwerke von Häusern höchst ungehalten, er sieht darin (wissenschaftlichen) Betrug. Von einer ähnlich herben Kritik sind die Mobilfunkgegner in Herrenberg jedoch meilenweit entfernt. Die 4-Meter-Prognose wird weder von der sonst nicht zimperliche IG kritisiert, noch von Jörn Gutbier. Stattdessen lobte Gutbier zuletzt die Aufstockung des Masten als "technisch guten Lösung" und stimmte im TA als einziger weder für noch gegen die Aufstockung.

Alle Menschen sind nicht gleich
Die Apotheke, die Luftlinie 160 Meter vom neuen Standort entfernt ist, wird mit Ulrich-Raithels 4-Meter-Prognose überbewertet, da sie ebenerdig liegt. Dort wird der verbindlich prognostizierte Wert von 2,8 V/m sicher deutlich unterschritten. Doch das Haus ist 4-stöckig, die Bewohner des obersten Stockwerks bewegen sich etwa 12 Meter über Grund. Für die Leute dort ist die Prognose des Umweltinstituts wertlos, sie müssen, wenn Ulrich-Raithel sich nicht verrechnet hat, mit erheblich höheren Immissionen rechnen.

Gebäude mit der Haug-Apotheke in Herrenberg
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Foto: IZgMF

Normalerweise, dachte ich, orientiert man sich bei solchen Vorsorgekonzepten am schlimmstmöglichen Einzelfall. Dieser findet sich immer nahe eines Standorts und (nahezu) immer in den obersten Stockwerken der Häuser und nicht auf einer virtuellen Ebene, die willkürlich 4 Meter über Grund eingezogen wurde. Das erste Bild oben belegt zudem: Die Apotheke ist keineswegs das am ungünstigsten gelegene Gebäude.

Gutachten ohne Gegenwert
So stellt sich mir die Frage nach dem Sinn des teuren Gutachtens, das a) keinen substanziellen Veränderungswert zeigt und b) nur für Menschen gilt, die im 1. Stock ihrer Häuser auf einem Balkon im Freien stehen oder aus geöffneten Fenstern schauen. Wenn schon unnötige und teure Vorsorge, dann wenigstens eine, die sich an der Situation der am stärksten Betroffenen orientiert und nicht dort, wo immissionsmäßig ohnehin nur Mittelmaß herrscht. Die Rechtfertigung dafür gibt einem das Grundgesetz jedoch nicht, denn Artikel 3 besagt lediglich, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind - und nicht vor Herrn Ulrich-Raithel. So obliegt es den Auftraggebern des Umweltinstituts, eine Prognose zu verlangen, die nicht für Pappkameraden gilt, sondern für die am stärksten Betroffenen. Ich hätte allerdings noch einen viel besseren Vorschlag für die Räte: Spart euer gutes Geld für vernünftige Projekte auf, denn jeder seriöse Experte wird euch bestätigen, nicht die Masten sind das Problem, sondern - wenn überhaupt - die Handys.

Vorsorge mit Pickelhauben
Wer heute glaubt, mit eingekauften Immissionsprognosen seine Bevölkerung vor Mobilfunk-Sendemasten schützen zu müssen, der muss sich davor hüten, dass ihm morgen einer Pickelhauben en masse für seine Bürger verkauft, damit auch die unbestreitbare Gefahr eines Meteoriteneinschlags in etwa 1,75 Meter Höhe vorsorglich reduziert ist.

Hintergrund
Wie das Umweltinstitut zu dem Auftrag kam
Lageplan des geplanten 40-Meter-Masten
Absage der Deutschen Bahn, den neuen Standort mit zu nutzen
Schnittzeichnung des neuen Sendemasten

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

Tags:
Umweltinstitut München, Foto, Analyse, Ulrich-Raithel, Standortkonzept, Immissionsgutachten, Volksaufstand, Gutbier, Messwerte, Alternativstandorte, Standort, Immissionsprognose, Herrenberg, Honorar, Immissionswert, Apotheke, Schuhlöffel, Silo


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