Neues von Berenis (37): Juli 2024 (Forschung)

H. Lamarr @, München, Freitag, 19.07.2024, 23:15 (vor 67 Tagen)

Im Zeitraum von Mitte Juli bis Anfang November 2023 wurden 103 neue Publikationen identifiziert,
von denen acht von Berenis vertieft diskutiert wurden. Vier davon wurden gemäß den Auswahlkriterien als besonders relevant und somit zur Bewertung ausgewählt, im Folgenden sind sie zusammengefasst. Mit Literaturangaben gibt es den aktuellen Berenis-Newsletter ungekürzt hier.

Experimentelle Tier- und Zellstudien

Änderungen im Lernverhalten von Ratten sowie Serumprotein-Profile in extrazellulären Vesikeln (Exosomen) nach simultaner Exposition mit 1.5 GHz und 4.3 GHz Mikrowellen (Wang et al. 2022)
In der in vivo-Studie mit Ratten von Wang et al. (2022) wurde der Einfluss von kurzzeitiger Mikrowellen-Exposition mit 1.5 und 4.3 GHz (alleine oder kombiniert) HF-EMF (3.3, 2.5, und 5.8 W/kg SAR für 6 Minuten) auf das Lernverhalten sowie auf die Anzahl von extrazellulären Vesikeln (Exosomen) im Serum und deren enthaltene Proteine untersucht. Ein zentrales Experiment dieser Studie beinhaltete einen hypothesenfreien quantitativen Vergleich der zellulären Proteine («Proteomics»), die in den Exosomen enthalten waren. Weiter wurden funktionelle Aspekte des Lernverhaltens und Gedächtnis, die elektrische Aktivität im Hippocampus sowie elektronenmikroskopische Veränderungen dieser Gehirnstruktur untersucht. Die Resultate zeigten, dass das Lernverhalten sowie die Gedächtnisleistung nach HF-EMF-Exposition vermindert (im Bereich von 10-30%) waren, insbesondere bei kombinierter Exposition bei 1.5 und 4.3 GHz. Zudem war die Ultrastruktur des Hippocampus geschädigt, und die elektrische Aktivität (EEG) verändert. Gleichzeitige Exposition mit beiden Frequenzen verursachte schwerere Beeinträchtigungen. Die Proteinanalysen identifizierten Proteine (VAMP8, Syn7, and VMAT), die an den Wahrnehmungsstörungen bedingt durch Mikrowellenexposition beteiligt sein könnten. [...] Die umfangreiche Studie von Wang et al. (2022) beinhaltet funktionelle, morphologische sowie mechanistische Daten, welche die beobachteten Veränderungen im Lernverhalten in Zusammenhang mit veränderter synaptischer Aktivität sowie morphologischen Veränderungen des Hippocampus aufzeigt. Die beobachtete Beeinträchtigung von Lernen und Gedächtnis könnte also durch eine Beeinträchtigung der synaptischen Aktivität nach kurzer HF-EMF-Exposition durch bestimmte Proteine erklärt werden.

5G-modulierte hochfrequente elektromagnetische Felder und neuronale Aktivität (Canovi et al. 2023)
Mittels eines neuartigen experimentellen Ansatzes wurde in der Studie von Canovi et al. (2023) der Einfluss von 3.5-GHz-HF-EMF (Trägerwelle und 5G-Modulation mit FDD) auf neuronale Aktivitäten untersucht. Dazu wurden Neuronen aus der Hirnrinde von Ratten auf sogenannten Multielektroden- Array-(MEA-)Chips kultiviert, wo diese ein neuronales Netzwerk ausbilden. Spontane elektrophysiologische Aktivität einzelner Zellen sowie koordinierte Signalübertragungen können so im zeitlichen Verlauf gemessen werden. Wobei die Forschenden in dieser Studie jeweils Kennzahlen (Parameter) der neuronalen Aktivitäten in Zeitfenstern von 15 Minuten vor, während und nach der Exposition verglichen haben. Im Bereich der Grenzwerte (1 und 3 W/kg SAR) wurden keine signifikanten Veränderungen der neuronalen Aktivitäten während der Exposition mit der 3.5-GHz-Trägerfrequenz oder einem 5G-modulierten Signal gefunden. Im Vergleich zu scheinexponierten Zellen war allerdings, vor allem beim 5G-Signal, ein Trend zu erhöhten Aktivitäten (Häufigkeit von gerichteten und spontanen elektrischen Signalen) nach der Exposition erkennbar. In den Experimenten mit hoher Expositionsdosis (28 W/kg SAR) hingegen wurde eine vorübergehende und signifikante Abnahme der Aktivität des neuronalen Netzwerkes beobachtet. Dabei war die Effektstärke ähnlich, unabhängig davon, ob ein 5G-moduliertes Signal oder 3.5- beziehungsweise 1.8-GHz-HF-EMF eingesetzt wurde. Da sich bei dieser Expositionsdosis die Temperatur der Nährlösung um ca. 1°C erhöht, wurden diese Befunde mit einer vergleichbaren Erwärmung ohne HF-EMF verglichen. Die Forschenden stellten auch hier eine Abnahme der neuronalen Aktivitäten während der Phase der Temperaturerhöhung fest, erwähnen aber, dass dieser Effekt weniger stark ausgeprägt sei und sich die Beobachtungen bei HF-EMF-Exposition dadurch nur teilweise erklären lassen. In diesem Zusammenhang bleibt unklar, ob die unterschiedliche Dynamik der Temperaturerhöhung beziehungsweise ein Temperaturgradient bedingt durch die Art des Wärmeeintrags eine Rolle spielen könnte.

Die Studie von Canovi et al. (2023) setzte ein modernes Modellsystem ein, um die Beeinflussung neuronaler Aktivitäten durch noch nicht so häufig eingesetzte 3.5-GHz-HF-EMF zu untersuchen. Es wurde nur von Auswirkungen auf neuronale Aktivitäten berichtet, wenn die Exposition mit einer Temperaturerhöhung einhergeht. Zudem gilt es zu beachten, dass in dieser Arbeit nicht wie üblich die Effekte von schein- und HF-EMF-exponierten Zellkulturen, sondern jeweils relative Veränderungen im zeitlichen Verlauf verglichen wurden. Die Wahl dieses Ansatzes könnte durch die vermutlich stark ausgeprägte Variation der Aktivitäten der etablierten neuronalen Netzwerke bedingt sein. Die Beobachtungen sollten also in zukünftigen unabhängigen Untersuchungen und unter Berücksichtigung der erwähnten Unsicherheitsfaktoren bestätigt werden.

Epidemiologische Studien

Mobiltelefonnutzung und Spermienqualität bei Militärrekruten in der Schweiz (Rahban et al. 2023)
Diese Querschnittsstudie mit 2886 Rekruten des Schweizer Militärs im Alter von 18-22 Jahren untersuchte den Zusammenhang zwischen selbstberichteter Mobiltelefonnutzung und Spermienqualität. Die gemessenen Spermien-Parameter waren Volumen, Konzentration, Gesamtzahl der Spermien, Beweglichkeit und Morphologie. Von den 20 untersuchten Assoziationen mit kategorisierter Expositionsabschätzung erwiesen sich drei als signifikant. Bei Männern, die ihr Mobiltelefon mehr als 20 Mal pro Tag benutzten, wurde eine niedrigere Gesamtzahl der Spermien gefunden als bei denjenigen, die ihr Mobiltelefon 1-5 Mal pro Tag benutzten. Ein signifikant höherer Prozentsatz von Spermien mit einer normalen Form wurde bei Männern gefunden, die ihr Telefon 10-20 oder mehr als 20 Mal pro Tag benutzten. Von den fünf untersuchten Assoziationen mit kontinuierlicher Expositionsabschätzung erwiesen sich zwei negative Auswirkungen als signifikant (Spermienkonzentration und Gesamtzahl der Spermien). Der Ort, an dem die Männer ihr Handy bei sich trugen, wenn sie es nicht benutzten (Hosentasche, Jackentasche, Tasche usw.), stand in keinem Zusammenhang mit der Spermienqualität.

Zu den Stärken dieser Studie gehören die sorgfältige Bewertung der Spermienqualität und die relativ grosse Zahl von teilnehmenden Männern, die repräsentativ für 97% der männlichen jungen Bevölkerung der Schweiz ist. Der Studienansatz ist zudem deutlich besser als bei den meisten früheren Studien zur Spermienqualität, bei denen die Teilnehmenden in Fruchtbarkeitskliniken rekrutiert wurden, was einerseits weniger repräsentativ ist und andererseits oft dazu führt, dass teilnehmende Männer eine hohe Exposition angeben, wenn sie glauben, dass diese mit ihrem Fruchtbarkeitszustand zusammenhängen könnte. Als Stärke dieser Studie ist auch zu werten, dass die Expositionsabschätzung erfolgte, bevor die Teilnehmer das Ergebnis ihrer Spermienuntersuchung kannten. Es handelt sich um eine Querschnittsstudie, die keine Aussagen hinsichtlich Kausalität erlaubt. Während einige der Ergebnisse mit Zufallsbefunden vereinbar sind (beispielsweise waren drei von 20 untersuchten Zusammenhängen signifikant, und es wurden sowohl unerwünschte wie auch schützende Wirkungen gefunden), betonen die Autorinnen und Autoren in ihren Schlussfolgerungen signifikante negative Zusammenhänge, und gelegentlich wird Kausalität suggeriert. Die Expositionsabschätzung erfolgte aufgrund selbstberichteter Angaben zur Mobiltelefonnutzung. Es ist jedoch nicht bekannt, inwieweit die Häufigkeit der Telefonnutzung ein Indikator für die tatsächliche HF-EMF-Dosis ist. Häufige Telefonnutzung könnte theoretisch auch eine Art «Proxy» für einen anderen Faktor sein, der nichts mit HF-EMF zu tun hat und auch nicht berücksichtigt wird, der aber wiederum mit der Spermienqualität zusammenhängt. Die Definition der Exposition als selbst geschätzte Häufigkeit der Telefonnutzung pro Tag auf einer festgelegten Skala ist vage. [...] Ende 2022 startete vor diesem Hintergrund eine Folgestudie mit verbesserter Expositionsabschätzung. Mehr Informationen zu dieser Folgestudie können auf der Webseite des BAFU abgerufen werden.

Die tendenzielle Abnahme des Zusammenhangs zwischen HF-EMF und der Samenqualität über die Jahre hinweg wird von den Autorinnen und Autoren als kausaler Trend interpretiert, und dem Übergang von der 2G- über die 3G- zur 4G-Technologie zugeschrieben, jedoch fehlt eine Begründung dafür. Die Gruppe, die ihre Telefone häufig benutzte, berichtete über einen typischerweise weniger gesunden Lebensstil als die Gruppe, die ihre Telefone weniger häufig benutzte (z. B. Rauchen, höherer Alkohol- und Medikamentenkonsum, höherer BMI, geringere Bildung). Dies deutet darauf hin, dass der Lebensstil eine wichtige Rolle spielt, und obwohl dies in der Analyse auf verschiedene Arten berücksichtigt wurde, kann eine Verzerrung durch nicht berücksichtigte Faktoren diesbezüglich eine Rolle spielen.

Experimentelle Humanstudien

Einfluss von 5G-Strahlung (3.5 GHz) auf Hirnaktivität von gesunden Freiwilligen (Jamal et al. 2023)
Vierunddreissig gesunde Freiwillige (17 Männer, 17 Frauen) wurden einem 5G-Signal (Hornantenne; 3.5 GHz; pulsmoduliert (577 μs/4.6 ms); Feldstärke am Kopf 2 V/m rms) oder einer Kontrollbedingung (kein Feld) ausgesetzt. Dabei wurden die Hirnströme (EEG; 64 Kanäle) im Wachzustand (Augen offen und Augen zu), Herzaktivität und Temperatur gemessen und Speichelproben genommen. Aufgezeichnet wurde eine Vorexpositionsphase (Baseline), die Expositionsphase und eine Nachexpositionsphase. Nur die Hirnströme wurden ausgewertet. Die Hirnaktivität war weder während der Exposition noch nach der Exposition beeinflusst durch die 5G-Strahlung mit einer Feldstärke von 2 V/m.

Es könnte sein, dass die 64 Elektroden eine abschirmende Wirkung hatten und so die Exposition verringerten. Andererseits war die Intensität des Feldes gering (SAR 0.037 mW/kg; Basisstation) und bei diesen Intensitäten sind kaum Effekte zu erwarten. EEG-Veränderungen wurden bis jetzt bei deutlich höheren Intensitäten entsprechend denen von Mobiltelefonen mit einer SAR um 1 W/kg beobachtet.

Weitere Publikationen zur Information

NIS-Monitoring in der Schweiz
Das Projektkonsortium SwissNIS hat den zweiten Jahresbericht veröffentlicht. In diesem werden die Messungen, die im Rahmen des Schweizer NIS-Expositionsmonitorings im Jahr 2022 durchgeführt wurden, beschrieben.

WHO-Reviews
Im Auftrag der WHO werden zurzeit eine Reihe von systematischen Reviews bezüglich gesundheitlichen Auswirkungen von HF-EMF-Exposition durchgeführt. Nachdem die entsprechenden Protokolle bereits in den Jahren 2021 und 2022 veröffentlicht wurden, sind nun auch die Ergebnisse der ersten Reviews veröffentlicht (Cordelli et al. 2023, Röösli et al. 2024, Cordelli et al. 2024, Bosch- Capblanch et al. 2024, Benke et al. 2024).

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –

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