Falsche Schlüsse (31): die Illusion vom freien Willen (Allgemein)

H. Lamarr @, München, Freitag, 30.12.2011, 18:26 (vor 4705 Tagen) @ H. Lamarr

René Descartes postulierte einst einen Grundsatz der Viel-o-Sophie: Ich denke, also bin ich. Der Neurowissenschaftler Michael Gazzaniga, Doktor der Philosophie, sieht dies anders. Er meint, der freie Wille sei nur Illusion. In Wahrheit seien wir Maschinen, wundervoll entworfen zwar, die aber doch nur rein deterministisch (vorhersagbar) arbeiten. Descartes Postulat würde er vielleicht so umformulieren: Ich denke, also funktioniere ich. Was wir als freien Willen sehen ist aus Sicht des bekannten Hirnforschers lediglich eine Verknüpfung von aktuellen Umwelteinflüssen und gespeicherten Informationen (Lebenserfahrung). Aus beidem ergibt sich unser Handeln, das sich messbar ungefähr 0,3 Sekunden vor einer Handlung im Gehirn abzeichnet.

Das Besondere ist nun: Gazzaniga plaudert nicht nur so daher, er belegt seine Behauptungen mit seinen Forschungsergebnissen an "Split-Brain"-Patienten, das sind Leute, bei denen die Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften chirurgisch durchtrennt wurde, um epileptische Anfälle milder verlaufen zu lassen. Aus Tests mit diesen Patienten hat Gazzaniga seine atemberaubenden Erkenntnisse gezogen.

Gazzaniga: Ich erinnere mich noch gut an unseren Patienten P. S. Wir zeigten ihm ein Bild und baten ihn anschließend, unter verschiedenen Motiven ein zweites, dazu passendes auszuwählen. Was P. S. nicht wusste, war, dass wir ihm zwei verschiedene Bilder zeigten. Die linke Gehirnhälfte sah einen Hühnerfuß, die rechte eine Winterszene mit Schnee. Als er dann die verwandten Bilder auswählen sollte, zeigte er mit seiner rechten Hand auf ein Huhn und mit seiner linken Hand auf eine Schneeschaufel. Wir fragten ihn, warum er so gewählt hatte. Erst sagte er: "Der Hühnerfuß gehört zum Huhn", und das ist ja in der Tat, was die linke Hemisphäre gesehen hatte. Erstaunlicherweise konnte er aber auch die Entscheidung seiner linken Hand erklären. Er sagte: "Man braucht eine Schaufel, um den Hühnerstall sauber zu machen." Offensichtlich hatte die linke Gehirnhälfte das seltsame Verhalten der linken Hand wahrgenommen und blitzschnell eine schlüssige Storyline erfunden. In der linken Gehirnhälfte sitzt also eine Art Geschichtenerzähler, der ständig eine schlüssige Interpretation der Wirklichkeit liefert (siehe Grafik).

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Grafik: "Der Spiegel"

Der Märchenonkel in der linken Gehirnhälfte ist auch der Grund dafür, warum Gazzaniga den sonst hoch geschätzten "Augenzeugen" vor Gericht als schwächstes Glied im gesamten Gerichtssystem sieht.

Der Märchenonkel dürfte, wenn es ihn wirklich geben sollte, auch dafür verantwortlich sein, dass manche Menschen trotz zahlloser gegenteiliger Argumente fest davon überzeugt sind, sie könnten schwache Funkfelder sinnlich wahrnehmen oder davon bewirkte Symptome unangenehm spüren. Dazu passen sehr gut diverse Fallberichte, denen zufolge überzeugte Elektrosensible (EHS) immer dann leiden, wenn sie Funkantennen sehen. Fehlt dieser optische Reiz, bleibt die Reaktion aus. Wird in so einer Situation ein EHS dann glaubend gemacht, er befände sich inmitten elektromagnetischer Felder - obwohl dies nicht stimmt - stellen sich, ein Verdienst des Märchenonkels im Hirn links, die Symptome prompt wieder ein. Erst in mehreren Blindversuchen (statistische Aussagekraft) lassen sich die Einflüsterungen des Märchenonkels zuverlässig ausschließen. Regelmäßig versagen deshalb in solchen Blindtests EHS, die sich zuvor absolut sicher waren.

Auslöser für diesen Beitrag ist der Artikel "Wir sind nur Maschinen" in "Der Spiegel" 50/2011 gewesen. Zum Verständnis ist die Grafik wichtig, die oben nur unzulänglich abgebildet ist. Deshalb am besten das unter dem Link angebotene PDF laden, dort sind Text und Grafik in guter Qualität enthalten.

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Jedes komplexe Problem hat eine Lösung, die einfach, naheliegend, plausibel – und falsch ist.
– Frei nach Henry Louis Mencken (1880–1956) –


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